Milamber
Well-Known Member
Es ist ja keine Frage, dass sich Anzüge über die Jahrzehnte verändert haben, aber sie haben sich eben viel weniger verändert als andere Kleidungsformen. Anzüge sind immer noch Jacke mit Revers und Hose aus einem Stoff und in einem bestimmten Proportionsverhältnis zueinander und zur Figur des Trägers, die Stofftypen sind immer noch die gleichen, auch wenn die Stoffe insgesamt feiner geworden sind. Das hier ist aus den 1960ern, wäre heute aber nahezu unverändert tragbar.
Die Stoffe haben sich auch nicht durch Mode verändert, sondern durch technische Verbesserung in der Weberei-Industrie. Auch in den 1930er Jahren wären leichtere oder auch einfach offener gewebte Stoffe im Sommer aus praktischen Gründen sehr gefragt gewesen, man konnte sie nur damals noch nicht produzieren. Die industrielle Vereinfachung von Anzügen, Mänteln etc. mit all den von Dir beschriebenen Makeln wurde durch die zunehmende industrielle Produktion von Konfektionsware und ihrer Kostenoptimierung provoziert. In der Maßschneiderei und auch in der hochwertigen Maßkonfektion kann man sich nach wie vor davon emanzipieren.
Der Punkt ist, dass das Aussehen klassischer sartorialer Kleidung nie durch Modekonzerne oder "Designermarken" getrieben wurde, sondern nur durch die Kreativität von Maßschneidern entstand. Durch mangelnde globale Vernetzung entwickelten sich in verschiedenen westlichen Ländern gleichzeitig subtil unterschiedliche Stile, die bis heute Bestand haben, auch wenn sie nicht immer in die Konfektion und damit in die Sehgewohnheiten der Allgemeinheit Einzug hielten (speziell die Pariser Maßschneiderei wäre da zu nennen). Die Konfektionsindustrie kopierte davon nur vereinfachte Formen und versuchte durch Variation von Versatzstücken daraus seit den 1970ern Modezyklen zu generieren, was mittlerweile auch nicht mehr gelingt, weil die Mode tot ist, seit sie sich mit der Fast Fashion zwölf Mal pro Jahr neu erfinden muss und damit alle Modetrends parallel möglich macht.
Was sich zweifellos verändert hat, ist die gesellschaftliche Anwendung sartorialer Kleidung, weg von der Alltagskleidung vieler (wobei damals die Qualitätsunterschiede ebenso enorm waren, die Kleidung der wohlhabenden Elite und der Arbeiterklasse haben sich schon deutlich qualitativ unterschieden) zur situativen Verkleidung weniger (und weiter Alltagskleidung für ein paar interessierte Dandies). Aber das ist durch soziale Veränderungen getrieben und nicht durch ein paar Modegurus durch bewusste Entscheidung.
Du widersprichst Dir teilweise. Ich gehe nur auf den ersten Absatz ein, da ich nicht so viel schreiben möchte.
Du sagst, dass sich Anzüge verändert haben. Also jetzt doch?
Du sagst, viel weniger als andere Kleidungsformen, da ein Anzug immer noch eine Jacke mit Revers und Hose aus einem Stoff ist.
Ok, eine Jeans ist immer noch eine Jeans aus mehr oder weniger gleichem Material, und mehr oder weniger gleichem Aufbau. Ein Pulli ist immer noch ein Pulli und ein T-Shirt ist immer noch ein T-Shirt.
Die letzteren haben sich vermutlich sogar noch viele weniger verändert als Anzüge.
Also entweder wir sprechen hier über Details und die allgemeine Erscheinungsform – und diese hat sich stark verändert – oder wir sprechen nur ganz allgemein darüber ob eine Jacke immer noch eine Jacke und eine Hose immer noch eine Hose ist. Am letzteren hat sich schon länger nichts geändert, das ist richtig.
Und auch Dein Beispiel zeigt schon auf den ersten Blick viele Änderungen. Das Revers ist viel schmaler als heute, die Weste ist viel höher (heute trägt man eigentlich selten welche) und den Schnitt kann man auf dem Bild zwar nicht 100% erkennen, aber er ist auch viel lockerer als heute üblich.
EDIT: nicht zu vergessen die schmalere Krawatte mit dem kleineren Knoten.
Und soweit ich mich erinnern kann, hast Du irgendwo über die Proportionen geredet und dass diese immer gleich bleiben. Auch das ist nicht richtig. Die Proportionen und die Wirkung auf dem Körper sind eben ganz anders. Der Schnitt, Kragenweite, Höhe des oberen Knopfes, Schulteraufbau, etc. All das hat eine große Auswirkung auf die Erscheinung des Trägers. Und diese ganzen Details haben sich immer wieder geändert.