Suit Supply

Ist Havanna nun business tauglich geworden oder haben ich da etwas verpasst? Aufgesetzt Taschen erscheinen mir immer noch als Nogo im Büro. Was meint ihr?
Ich glaube, ob ein spezielles Anzugsdetail "businesstauglich" ist oder nicht, wird zu Recht immer unwichtiger werden. Viel wichtiger ist, ob der Anzug gut aussieht, stimmig kombiniert wird und einem selbst mit all seinen Details steht. Dann ist es am Ende egal, ob man mit diesem Anzug im Büro gut aussieht oder z.B. im Cafe A Brasileira in Lissabon stimmig ins hübsche Ambiente passt. Ich habe ohnehin immer für einen ganzheitlichen sartorialen Ansatz plädiert und nicht für separierte Situationsverkleidung.

That being said würde ich für einen offiziellen Anlass - beruflich oder privat - auch keinen Anzug mit aufgesetzten Taschen wählen. Aber das ist meine persönliche Note, ich mag halt diese abgestuften Insider-Formalitätsniveaus. ;)
 
ich glaube, dass auch allgemein eine falsche Vorstellung vom „klassischen Stil“ (oder eben auch businesstauglichen Stil) herrscht. Es gibt nicht DEN einen klassischen Stil, der schon seit „Jahrhunderten" existiert. Das ist ein Mythos.
Auch Anzüge haben sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder verändert. Sie ändern sich nur nicht so schnell wie fast fashion am Laufsteg, aber sie ändern sich nunmal.
 
ich glaube, dass auch allgemein eine falsche Vorstellung vom „klassischen Stil“ (oder eben auch businesstauglichen Stil) herrscht. Es gibt nicht DEN einen klassischen Stil, der schon seit „Jahrhunderten" existiert. Das ist ein Mythos.
Auch Anzüge haben sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder verändert. Sie ändern sich nur nicht so schnell wie fast fashion am Laufsteg, aber sie ändern sich nunmal.
Wie viele Anzüge und Sakkos hattest Du noch mal? ;)

Dieses Forum gibt es etwa seit 12 Jahren und auch wenn es manche Veränderung unter den Mitgliedern gab, kann man immer noch sagen, dass es grundsätzlich eine recht elaborierte Vorstellung von sartorialer Kleidung hat, das ist sozusagen der Kern aller Diskussion hier. :)

Dazu gehört auch, wieviel Kontinuität diese Kleidungsform über die Jahrzehnte mitgebracht hat, und das ist verglichen mit jeglicher anderer Kleidung schon ziemlich viel. Moden verändern maximal ein paar kleine Details in der Silhouette, aber nicht das zugrundeliegende Proportionskonzept. Wenn man heute einen Gentleman aus den 1930er Jahren auf der Straße sehen würde, würde man vielleicht bei der Beinweite seiner Hosen stutzen, aber man würde nie auf die Idee kommen, dass er gar keinen Anzug trägt, es sähe schon vertraut aus. Jemand aus den 1960er Jahren käme u.U. sogar relativ modern rüber.

Als kurze Einstiegsleseempfehlung:
https://www.amazon.de/Dressing-Man-Mastering-Permanent-Fashion/dp/0060191449
 
dem muss ich widersprechen. Es gibt nicht nur große Unterschiede zwischen den Jahrzehnten, sondern auch zwischen den Ländern. Und was würdest Du als klassisch definieren? Britisch? Italienisch? Französisch? Und welches Jahrzehnt ist das „klassische“?
So ziemlich jeder Aspekt der Kleidung verändert sich kontinuierlich.

Ich finde gerade nicht den sehr detaillierten Artikel über die Geschichte der Mode und wie sie sich immer verändert hat (sowohl Frauen als auch Männer), aber ich habe noch ein Video gefunden wo auch darauf eingegangen wird:
https://youtu.be/R6yxKA6wwvE

Und wer sich für die noch früheren Epochen interessiert, kann auch diese Videos anschauen (wobei ich glaube, dass da mehr über die Frauenbekleidung gesprochen wird. Mein Internet spinnt gerade und die Videos laden nicht):
https://www.youtube.com/c/CrowsEyeProductions/videos


und nein, jemand aus den 60ern wäre sofort als jemand aus den 60ern zu erkennen ;). Schau Dir mal einen alten James Bond Film an. Das sind schon sehr große Unterschiede zu heutiger Kleidung.
 
Der Unterschied zwischen Lazio und Havana sind daran gemessen ja nur Nuancen. Schnitt ist grundsätzlich gleich, Havana etwas weniger gepolstert und aufgesetzte Taschen. Da entscheidet in dem Fall der Stoff deutlich stärker darüber, ob der Anzug formell oder freizeitlich wirkt.
 
Wie viele Anzüge und Sakkos hattest Du noch mal? ;)

Dieses Forum gibt es etwa seit 12 Jahren und auch wenn es manche Veränderung unter den Mitgliedern gab, kann man immer noch sagen, dass es grundsätzlich eine recht elaborierte Vorstellung von sartorialer Kleidung hat, das ist sozusagen der Kern aller Diskussion hier. :)

Dazu gehört auch, wieviel Kontinuität diese Kleidungsform über die Jahrzehnte mitgebracht hat, und das ist verglichen mit jeglicher anderer Kleidung schon ziemlich viel. Moden verändern maximal ein paar kleine Details in der Silhouette, aber nicht das zugrundeliegende Proportionskonzept. Wenn man heute einen Gentleman aus den 1930er Jahren auf der Straße sehen würde, würde man vielleicht bei der Beinweite seiner Hosen stutzen, aber man würde nie auf die Idee kommen, dass er gar keinen Anzug trägt, es sähe schon vertraut aus. Jemand aus den 1960er Jahren käme u.U. sogar relativ modern rüber.

Als kurze Einstiegsleseempfehlung:
https://www.amazon.de/Dressing-Man-Mastering-Permanent-Fashion/dp/0060191449

Daß Laien das nicht unterscheiden können, mag schon sein; Ich möchte @Milamber aber zustimmen: Die Anzugmode hat sich aber seit den 1930er Jahren trotzdem erheblich verändert: der früher utilitäre, in allen gesellschaftlichen Schichten vertretene Anzug hat mit dem heutigen Anzug, der von einer bestimmten Klientel (Banker, Juristen, Geschäftsleute,...), die man gemeiniglich auch korrekterweise mit ihm assoziiert, hauptsächlich getragen wird, nicht mehr sonderlich viel gemein. Der Anzug hat sich den Bedürfnissen seiner Business-Träger angepaßt: Die Stoffe sind leichter, feiner, weicher und "edler" d.h. weniger alltagstauglich geworden, die Schnitte sind nicht so praktisch (vgl. Kellerfalten bei den Anzügen der 30er Jahre mit den heutigen Anzugschnitten), auch die Proportionen haben sich stark verändert, viele nützliche Details, wie bellowed pockets oder pleated patch pockets sind verschwunden. Dazu kommen die minderwertigeren Konstruktionsmethoden; Full Canvas ist kein Standard mehr, sondern wird Kunden als "Premium"-Verarbeitung verkauft - welch ein Unfug; die Anzüge mit Half Canvas und Klebeinlage sind einfach viel zu teuer in bezug auf ihre Herstellungskosten, eine vertretbare Premium-Variante war früher und ist heute noch die Handverarbeitung der Einlage. Bei "wettertauglicher" Kleidung, Mänteln wie Jacken, sind die Stoffe meist viel zu leicht und fein, um einen angemessenen Schutz vor der Witterung zu bieten, die Konstruktion ist meist auch miserabel und Detailänderungen wie schmale Revers und eine erhöhte Kassur erschweren es, das Revers zum Schutz vor Kälte und Wind aufzustellen. Zudem sind moderne Mäntel oft zu kurz.
Fazit: "Klassische Kleidung", wie zuvörderst der Anzug ist vom praktischen und in der Regel auch haltbaren Alltagsgegenstand zum Kleidungsstück einer recht wohlhabenden Elite (und Liebhabern aus allen Schichten;)) geworden.
 
Daß Laien das nicht unterscheiden können, mag schon sein; Ich möchte @Milamber aber zustimmen: Die Anzugmode hat sich aber seit den 1930er Jahren trotzdem erheblich verändert: der früher utilitäre, in allen gesellschaftlichen Schichten vertretene Anzug hat mit dem heutigen Anzug, der von einer bestimmten Klientel (Banker, Juristen, Geschäftsleute,...), die man gemeiniglich auch korrekterweise mit ihm assoziiert, hauptsächlich getragen wird, nicht mehr sonderlich viel gemein. Der Anzug hat sich den Bedürfnissen seiner Business-Träger angepaßt: Die Stoffe sind leichter, feiner, weicher und "edler" d.h. weniger alltagstauglich geworden, die Schnitte sind nicht so praktisch (vgl. Kellerfalten bei den Anzügen der 30er Jahre mit den heutigen Anzugschnitten), auch die Proportionen haben sich stark verändert, viele nützliche Details, wie bellowed pockets oder pleated patch pockets sind verschwunden. Dazu kommen die minderwertigeren Konstruktionsmethoden; Full Canvas ist kein Standard mehr, sondern wird Kunden als "Premium"-Verarbeitung verkauft - welch ein Unfug; die Anzüge mit Half Canvas und Klebeinlage sind einfach viel zu teuer in bezug auf ihre Herstellungskosten, eine vertretbare Premium-Variante war früher und ist heute noch die Handverarbeitung der Einlage. Bei "wettertauglicher" Kleidung, Mänteln wie Jacken, sind die Stoffe meist viel zu leicht und fein, um einen angemessenen Schutz vor der Witterung zu bieten, die Konstruktion ist meist auch miserabel und Detailänderungen wie schmale Revers und eine erhöhte Kassur erschweren es, das Revers zum Schutz vor Kälte und Wind aufzustellen. Zudem sind moderne Mäntel oft zu kurz.
Fazit: "Klassische Kleidung", wie zuvörderst der Anzug ist vom praktischen und in der Regel auch haltbaren Alltagsgegenstand zum Kleidungsstück einer recht wohlhabenden Elite (und Liebhabern aus allen Schichten;)) geworden.
Es ist ja keine Frage, dass sich Anzüge über die Jahrzehnte verändert haben, aber sie haben sich eben viel weniger verändert als andere Kleidungsformen. Anzüge sind immer noch Jacke mit Revers und Hose aus einem Stoff und in einem bestimmten Proportionsverhältnis zueinander und zur Figur des Trägers, die Stofftypen sind immer noch die gleichen, auch wenn die Stoffe insgesamt feiner geworden sind. Das hier ist aus den 1960ern, wäre heute aber nahezu unverändert tragbar.

Die Stoffe haben sich auch nicht durch Mode verändert, sondern durch technische Verbesserung in der Weberei-Industrie. Auch in den 1930er Jahren wären leichtere oder auch einfach offener gewebte Stoffe im Sommer aus praktischen Gründen sehr gefragt gewesen, man konnte sie nur damals noch nicht produzieren. Die industrielle Vereinfachung von Anzügen, Mänteln etc. mit all den von Dir beschriebenen Makeln wurde durch die zunehmende industrielle Produktion von Konfektionsware und ihrer Kostenoptimierung provoziert. In der Maßschneiderei und auch in der hochwertigen Maßkonfektion kann man sich nach wie vor davon emanzipieren.

Der Punkt ist, dass das Aussehen klassischer sartorialer Kleidung nie durch Modekonzerne oder "Designermarken" getrieben wurde, sondern nur durch die Kreativität von Maßschneidern entstand. Durch mangelnde globale Vernetzung entwickelten sich in verschiedenen westlichen Ländern gleichzeitig subtil unterschiedliche Stile, die bis heute Bestand haben, auch wenn sie nicht immer in die Konfektion und damit in die Sehgewohnheiten der Allgemeinheit Einzug hielten (speziell die Pariser Maßschneiderei wäre da zu nennen). Die Konfektionsindustrie kopierte davon nur vereinfachte Formen und versuchte durch Variation von Versatzstücken daraus seit den 1970ern Modezyklen zu generieren, was mittlerweile auch nicht mehr gelingt, weil die Mode tot ist, seit sie sich mit der Fast Fashion zwölf Mal pro Jahr neu erfinden muss und damit alle Modetrends parallel möglich macht.

Was sich zweifellos verändert hat, ist die gesellschaftliche Anwendung sartorialer Kleidung, weg von der Alltagskleidung vieler (wobei damals die Qualitätsunterschiede ebenso enorm waren, die Kleidung der wohlhabenden Elite und der Arbeiterklasse haben sich schon deutlich qualitativ unterschieden) zur situativen Verkleidung weniger (und weiter Alltagskleidung für ein paar interessierte Dandies). Aber das ist durch soziale Veränderungen getrieben und nicht durch ein paar Modegurus durch bewusste Entscheidung.
 
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