Kann/Muss man Stil lernen?

Jetzt ist mir aufgefallen, das ich viele Kombinationen, die ich im "Was tragt ihr heute" Sammelthread gesehen habe, von meinem subjektiven Empfinden her, als nicht schön empfinde, weil mir zuviele Farben und Muster gemischt sind, selbst bei den Outfits die allgemein grossen Anklang finden. Auch empfinde ich es als nicht schön, auffällige Sockenfarben zu tragen, die nicht die Farbe der Hose haben. Das was ich als schön empfinde würde hier wohl (zurecht?) als stillos betrachtet.

Deswegen stellt sich mir die einleitende Frage: Kann oder Muss man Stil erst lernen?

Mir geht es ebenfalls so wie Dir, Donngal. Mir gefällt ebenfalls vieles nicht was gezeigt wird aus den gleichen Gründen wie oben beschrieben. Also eher eine Geschmacks- und weniger eine Stilfrage, wie ja bereits mehrfach geantwortet. Ob man sich so lange einer Gehirnwäsche unterziehen kann, dass man seinen Geschmack irgendwann ändert, das vermag ich nicht zu sagen. Müssen tut man es jedenfalls nicht, denn Toleranz ist für mich eine ganz entscheidende Charaktereigenschaft eines Gentlemans (womit ich nicht sagen will, dass ich einer bin, ganz und gar nicht). Letztlich muss es dem gefallen der es trägt und nicht mir. ;)
 
Bezueglich Verkleiden: Inwiefern kann man denn urteilen, ob sich jemand 'verkleidet'? Verkleiden setzt ja voraus, dass mit einem bestimmten Kleidungsstil ein bestimmter Charakter/ ein bestimmtes Verhalten einhergeht. Das ist schlichtweg ein Vorurteil. Sicherlich ist Kleidung ein Ausdruck des eigenen Anspruchs im sozialen Gefuege als Symbol nach aussen, aber letztendlich denke ich nicht, dass es ueberhaupt ein 'Verkleiden' gibt. Wer noch nicht gelernt hat, dass das aeussere Erscheinungsbild ueberhaupt nicht mit einhergehenden Assoziationen zum Charakter konvergieren muss, hat vielleicht noch nicht viele Menschen unterschiedlicher Façon gesehen.
 
Ich weiß gar nicht, ob ich den Thesen von Guenter zu mehr als der Hälfte zustimme. ...
Das ist deutlich mehr, als ich erwartet habe.

Wenn wir auf diesen 40 - 50 % aufbauend einen übereinstimmenden kleinsten gemeinsamen konkreten Nenner als "Messlatte" finden könnten, wären wir meiner Ansicht nach weiter.

Im Schuh-Bereich ist das meiner Wahrnehmung nach mal gelungen. "Unter dem Niveau von Loake / Primeshoes geht nicht" war eine Zeit lang mal Konsenz hier im Forum.

Im anderen Bereichen fällt es uns sehr schwer, einen Nenner zu finden.

Wenn ich für mich in bestimmten Bereichen diesen kleinsten Nenner noch nicht ausgemacht habe, liegt es eigentlich immer daran, dass ich mich noch nicht ausreichend weit nach oben gewagt habe.

Grüße
Günter
 
...Ob man sich so lange einer Gehirnwäsche unterziehen kann, dass man seinen Geschmack irgendwann ändert, das vermag ich nicht zu sagen...

Wenn dazu eine Gehirnwäsche nötig sein müßte, wäre sowieso Hopfen und Malz verloren. Ich möchte es so sagen, daß man sich mit solchen Themen beschäftigen und Anregungen holen sollte. Was man davon dann wie umsetzt, muß jeder selbst entscheiden.
 
Zuletzt bearbeitet:
Bezueglich Verkleiden: Inwiefern kann man denn urteilen, ob sich jemand 'verkleidet'?
Das ist in der offensichtlichsten Form ganz einfach: Der Träger fühlt sich erkennbar unwohl in seinem Anzug, die Accessoires sind einfach oder ungenau kombiniert, der Anzug sitzt nicht und ist insgesamt von geringer Qualität (nicht notwendigerweise preisgünstig), erfüllt aber alle Kriterien der "Korrektheit" eines entsprechenden Business-Dresscodes. Ich würde schätzen, dass mindestens drei Viertel aller Anzugträger am Arbeitsplatz darunter fallen.

Es gibt natürlich subtilere Formen im Kreise der iGents, aber das sind dagegen Randzonen.
 
@bluesman528:

Vielleiucht darf ich eine Parallele vom Sport und aus der Musik anmerken. Als ich eine Kampfsporetart erlernt hatte - ich habe allerdings noch nicht ausgelernt - war es so, dass man am Anfang die Grundtechniken in der saubersten Ausführung üben sollte. Erst nach und nach kam das Verständnis für die komplizierten Techniken. Am Anfang sollte man sich aber nicht die Besonderheiten der erfahrenen Kämpfer anschauen, da man sonst zu schnell seinen "vermeintlich" eigenen Stil entwickelte. Das führte dazu, dass man eher einen schlechten Stil entwickelte, der nicht erfolgreich war.

Ähnliches aber doch in anderer Form galt für die Musik. Ich beschäftigte mich eine zeitlang mit dem Erlernen der Flamenco-Gitarre. Am Anfang gefielen mir einige Flamenco-Stücke gar nicht, obwohl mein Gitarrenlehrer - nicht nur er - diese Stücke pries. Erst später entwickelte sich ein rudimentäres Verständnis, so dass ich auch Zugang zu diesen anfänglich eher nah meiner Meinung verworrenen Stücken fand.

Von dem was Guenter oben erwähnt ausgehend:

Es muss doch möglich sein, einen Kleidungskanon zu entwickeln, der dem Anfänger die Möglichkeit gibt, sich daran zu orientieren. Das Spiel mit den Regeln kommt doch erst viel später, nachdem man gelernt hat, die Regeln zu durchschauen oder ihre Zusammenhänge zu erkennen.

Zum Beispiel:

Kurze Person, kurze Beine - kein Umschlag an den Hosen, da sonst Eindruck einer gestauchten Figur etc. Also die anerkannten Grundregeln der Proportion, Farbkombination, etc. Da muss es eine einheitliche Meinung geben, die in - sagen wir mal - 90 % der Fälle zutrifft. Mir als Anfänger sind diese Regeln nicht klar, aber ich bin mir sicher, dass man solche aufstellen kann. Die Folge wäre, dass jemand, der in einen Laden geht, erstmal aufgrund dieser Regeln nach dem Grundkanon gekleidet rumläuft und sich erst einmal wohler fühlt. Er beginnt zu verstehen, dass Kleidung mehr sein kann als nur das Bedecken von Körperstellen. Undder Grundkanon besteht meiner Meinung nach nicht in solchen Regeln wie no brown in town - dies ist m.E. eine epochenbezogene Regel, sondern in zeitlosen Regeln.

Von diesem Punkt ausgehen, kann jeder seinen eigenen Stil weiterentwickeln. Und das ist doch ein Stil, den man erlernen kann. Oder nicht?
 
Stimme der Idee mit den Grundregeln absolut zu. Auch den Vergleich zum Kampfsport, Grundregeln, dann Improvisation, finde ich gut.

Der Grund, warum fast niemand (hier, in anderen Foren und natürlich im echten Leben) wirklich gut angezogen ist, ist, weil eben diese Regeln und Lernschritte nicht eingehalten werden.
 
Der Grund wieso die Mode aktuell so ist wie sie ist,
dürfte nicht daran liegen das die Leute es nicht können, sondern schlicht weg nicht wollen.
99% aller Menschen kopieren bei Bekleidung nur, was sie in ihrem jeweiligen Umfeld wahrnehmen. Da es durch die Unvollständigkeit jeder Wahrnehmung zu einem natürlichen Kopierverlust kommt und die meisten Vorbilder eines solchen Kopiervorgangs auch schon derart unvollständig kopiert haben, ist das Ergebnis halt, wie es ist. Natürlich auch im Foren- und Blog-Universum, siehe iGents, Slim und Short Fit, Pseudo-Sprezz, explodierende Einstecktücher. :)

Deswegen liegt das Problem eher darin, dass der sartoriale Kanon irrelevant für die Bekleidung fast aller Leute ist, weil sich selbst die Kleidungsinteressierten nicht strukturell mit dem Thema auseinandersetzen, sondern nur ganz simpel irgendwen nachahmen, seien es konkrete Personen, Filmfiguren oder ein RLPL-Werbefoto. :)

Der Ansatz, etwas so Komplexes und wenig Greifbares wie Stil in ein einfaches Regelwerk zu kondensieren, ist der Versuch, dieses Kopierergebnis etwas zu systematisieren, indem man die Parameter für die "Ablesung" bis zur Unkenntlichkeit reduziert. Das bringt einen meiner Meinung nach nur marginal weiter. Es beinhaltet nach wie vor einige der wichtigsten Komponenten für das Ergebnis nicht, nämlich die eigenen körperlichen Gegebenheiten, die Persönlichkeitsnatur bzgl. der Interaktion mit der Umwelt und die konkreten situativen Gegebenheiten des gewünschten Kleidungseinsatzes. Erst wenn man die gegebenen, als passend erkannten "Regeln" der sartorialen Bekleidung mit seinen ganz eigenen physischen und psychischen Voraussetzungen in Balance bringt, wird etwas Authentisches in der Art herauskommen, dass irgendwann jemand über einen sagen mag, der Mann hat aber Stil. Jeder Abkürzungsversuch bewirkt nur, dass man über die ersten drei Meter dieses langen Weges nie hinauskommt.
 
Aber glaubst du denn das es schon mal eine Zeit gab in der sich Herren mehr über Mode und Kombinationen Gedanken gemacht haben?
Natürlich nicht. Das mussten sie auch nicht, weil das in früheren Zeiten ein überall gegenwärtiges gesellschaftliches Kollektivwissen war. Das gibt es heute nicht mehr und deshalb wanken viele wie durch einen diffusen sartorialen Nebel auf der Suche nach Anhaltspunkten.

Selbst dieses Lederschuh/Anzug/Hemd/Krawatte Bums aus sonst nichts,
war ja selbst zu seiner Blütezeit nur einem eher kleineren Teil der Gesellschaft vorbehalten.
Die hat es wohl zu allermeist schon in die Wiege gelegt bekommen.
AlCaponeSoup.jpg

Ich glaube, von den Herren hier vor einer Armenküche zur Zeit der großen Depression tragen sehr viele einen Anzug und ohne Krawatte war das damals nicht vorstellbar. Über Qualität und ggfs. Zustand müssen wir kein Wort verlieren, aber das generelle Konzept war den allermeisten Erwachsenen in urbanen Umfeldern klar. Industrie- und Landarbeiter trugen natürlich Arbeitskleidung.

Mode soll Spaß machen bzw Freude bereiten.... Und da gibt es viele Wege....und nicht "den" Weg....
Das stimmt. Aber wir reden ja in diesem Thread auch von der Suche nach und der Erlernbarkeit von Stil, nicht dem eigenen, sondern der Begrifflichkeit im Sinne von "das hat Stil", also eine generelle gekonnte und von einschlägigen Kennern anerkennend akzeptierte Anwendung des sartorialen Kanons auf die eigene Person. Da ist der zugrundeliegende Wunsch ja schon etwas profunder als mal einen Tag gut auszusehen.
 
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