Ich stelle mir diese Frage, da ich nach einigen Tagen lesen in diesem Forum festgestellt habe, dass zwischen dem, was ich für gutaussehend gehalten habe, und dem was hier größtenteils für stilvoll empfunden wird, doch einige Diskrepanzen bestehen. Ich lese hier alles von "Erlaubt ist was gefällt" bis "So kann man ja nicht rumlaufen".
Die Bandbreite der hier vorgestellten Kleidungsstile ist groß. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgend jemandem
alle Geschmäcker gefallen. Jeder bildet sich seine Meinung - und wie schon gesagt wurde, führt die Höflichkeit dazu, dass Zustimmung stärker geäußert wird als Ablehnung. Dennoch wirst Du nicht alleine sein mit der Meinung, dass man in einigen Fällen "so nicht rumlaufen kann".
Jetzt ist mir aufgefallen, das ich viele Kombinationen, die ich im "Was tragt ihr heute" Sammelthread gesehen habe, von meinem subjektiven Empfinden her, als nicht schön empfinde, weil mir zuviele Farben und Muster gemischt sind, selbst bei den Outfits die allgemein grossen Anklang finden.
Gut so - Du hast Deine Meinung und filterst "schön" von "unschön". Was will man mehr?
Deswegen stellt sich mir die einleitende Frage: Kann oder Muss man Stil erst lernen?
Ich würde sagen: Man
findet Stil. Es gab in meinem Leben eine Zeit, in der ich kurzärmelige Hemden gut fand. Weil praktisch. Und meine Schuhe kosteten auch selten mehr als 50 DM. War das
Stil? Nun, es war
mein Stil, und ich erkenne mich noch heute wieder, wenn ich Fotos von damals sehe. Trotzdem habe ich diesen Stil abgelegt, weil meine Vorstellungen von
Ästhetik sich weiterentwickelt haben. In eine Richtung, die nicht jeder mitträgt. Da muss man drüberstehen. Wenn ich im Sommer mit langärmeligen Hemden und Manschettenknöpfen herumlaufe, gibt es Menschen, die das seltsam finden.
Dass man trotzdem einen eigenen Stil gefunden hat, merkt man vor allem an der Reaktion anderer Menschen. Wenn Du jeden Tag in einem Nadelstreifenanzug zur Arbeit kommst, ist das noch lange nicht Dein Stil. Wenn man Dir hingegen nachsagt, dass Du jeden Tag im Nadelstreifennzug zur Arbeit kommst und dass Du dir in dieser Frage absolut treu bist, dann ist das plötzlich Dein Stil. Eine Gratwanderung.
Das gesellschaftliche Umfeld wird Deinen Stil allerdings erst dann bemerken, wenn er mit besonders hoher Sorgfalt verbunden ist. Jeden Tag ins Büro zu kommen und wortlos an seinen Platz zu gehen, ist kein Stil. Jeden Tag ins Büro zu kommen und jede anwesende Person mit Handschlag zu begrüßen, kann Dein Stil werden - wenn Du es wirklich jeden Tag machst und wenn es dem Selbstzweck dient und nicht der Erfüllung einer Konvention.
Wenn Du Deinen eigenen Stil finden willst, dann suche Dir etwas, auf das Du besonders großen Wert legst - und setze dir hohe Ansprüche. Es kann Kleidung sein, aber auch Musik, Benehmen, Sprache oder Kunst. Mit dem hohen Anspruch kommt automatisch ein Infragestellen des mehrheitlich akzeptierten Mindeststandards hin zum Besseren - was irgendwann auch das Umfeld positiv bemerkt und als
Dein Stil registriert.
Bunte Socken sind dafür nicht erforderlich.
Das gute Leben hat gesagt.:
Das ist genau der Knackpunkt - sich stilvoll kleiden bedeutet IMO, dass man sich mit größter Gelasseheit und Eleganz im Spannungsfeld zwischen Regeln und Regelbrüchen, Konvention und Idiosynkrasie bewegt - wobei die Regeln, um die es hier geht gesellschaftlich kaum noch bekannt sind, sondern inzwischen lediglich den sozialen Code einer (allerdings stetig wachsenden) Minderheit von Sartorialisten darstellen.
Das Spannungsfeld zwischen Regeln und Regelbrüchen existiert so nicht - weil es ein eigenes Regelwerk wäre, an das man sich wiederum halten kann. Wenn es ein mehrheitlich bekanntes Regelwerk der Kleidung gäbe, dann wäre das im Jahr 2012 der billige Anzug in Kombination mit Kurzarmhemd und geklebten Billigtretern, in den Taschen in iPhone, ums Handgelenk eine Standarduhr, darüber die böse Funktionsjacke. Die Frage nach den Mehrheitsverhältnissen ist irrelevant. Entscheidend ist, ob
ich selbst damit in ästhetischer Hinsicht zufrieden bin.
Wer damit nicht zufrieden ist, bedient sich manchmal eines Bilds aus der Vergangenheit. Da werden Kleidungsstile herausgesucht, die man früher mal hatte. Obwohl diese Stile doch damals ebenso fortschrittlich wie umstritten und keineswegs durch die Gesellschaft hindurch akzeptiert waren.
Man sollte die Vergangenheit nicht derart verklären. Die meisten Menschen sind Herdentiere und betrachten Kleidung rein pragmatisch. Waren denn die vielen Menschen, die vor 100 Jahren schlicht regelkonform auf den Straßen herumliefen,
stilvoller als heute? Die haben damals nur deshalb Mantel und Zylinder getragen, weil es von ihnen erwartet wurde. Würden dieselben Menschen sich heute nicht völlig mainstream-artig mit T-Shirt, Jeans und Turnschuhen anziehen, eben weil die Mehrheit der Menschen so herumläuft?