Die Flache haut mich jetzt nicht vom Hocker, sieht mir vielmehr nach unpraktischer Handhabung aus.

Wird da echter Rum 'seziert' oder wie kommt man an die Duftmoleküle? Oder ist das dann ein künstliches Aroma?

Guerlain gehört ja seit Mitte der 90er zu LVMH. Seitdem hat sich vieles verändert. Die Klassiker sind teilweise brutal reformuliert worden - das hat auch mit dem Regulierungsterror der IFRA zu tun, aber nicht nur. Die Klassiker wie L'Heure Bleue uva. sind gerade in den leicteren Versionen (Eau de Parfum abwärts) stark verwässert. Mit Düften wie Guerlain homme sucht die Marke Anschluss an den Massenmarkt, hier sollte man gar nicht erts die Qualität erwarten, die im Guerlain Luxussegment teilweise noch angestrebt wird. Zur konkreten Frage: Rum Absolue gibt es, aber natürlich auch synthetische Ersatzstoffe.
 
Nun, das sehe ich ein wenig anders. Guerlain gehört zwar zum Teil zu LVMH, jedoch ist es wenigstens ein Parfumhaus allererster Güte und Reputation und arbeitet somit absolut qualitätsbewusst.

LVMH hat vollständige Kontrolle über Guerlain. Der zweite Teil Deines Statements ist eine Tautologie. Ich bestreite ja nicht, dass Guerlain noch gute Parfüms macht, aber ich halte es mit den Experten (Turin, Coifan u.a.), die feststellen: "Classical Perfumery is dead". Da Guerlain unbestritten der Inbegriff der klassischen Parfümerie war, folgt: Guerlain, als das Haus, dass es einmal war, ist tot. Man braucht, um das festzustellen, wirklich nur Vintage-Versionen der ganzen Klassiker mit den aktuellen Manifestationen zu vergleichen. Ich verdamme den Laden deswegen nicht in Bausch und Bogen. Aber zwischen dem Traditions-Image, dass gepflegt wird, und den Realitäten des Marktes und der Firmenpolitik bestehen eben deutliche Divergenzen. Es gibt halt leider auch Einiges an 08/15-Ware und vieles, was gut ist, könnte wesentlich besser sein. Andererseits wäre Guerlain womöglich schon geschlossen, wenn die Familie nicht verkauft hätte.

Man kann die IFRA gerne kritisieren, aber teilweise stimme ich ihr zu, wenn dadurch z.B. Tierquälerei unterbunden wird, nur um Zibet, Moschus oder Ambra als Parfumgrundstoff zu gewinnen.
Nicht jedes Parfum, das einer gewollten oder durch die IFRA vorgegebenen Reformulierung unterzogen wurde ist per se vom Duft her schlechter als das "Original". Die Chemiefirmen sind schon lange durchaus in der Lage, perfekte Doppelgänger natürlicher Stoffe zu produzieren. Beim Eichenmoos klappt das schon vorzüglich.

Na ja, diese tierischen Stoffe spielen doch schon aus Kostengründen überhaupt keine Rolle mehr in der Parfümerie, von exzentrischen Miniproduzenten abgesehen. Das Problem ist, dass IFRA als Organ der Selbstkontrolle der Industrie eine Politik macht, die ausschließlich den Interessen der großen Kosmetik- und Chemiekonzerne dienlich ist, ähnlich wie die EU-Politik im vorgeblichen Interesse des Verbrauchers Vorschriften erlässt, welche handwerklich arbeitende Kleinbetriebe in der Käse- und Fleischproduktion zugunsten der Massenproduzenten in den Ruin treibt. Deshalb werden aufgrund höchst fragwürdiger "wissenschaftlicher" Ergebnisse Naturprodukte verbannt, die nicht im entferntesten die allergene Wirkung beispielsweise von Erdnüssen haben. Eichenmoos ist ein schönes Beispiel. Einen überzeugenden Ersatz dafür gibt es keineswegs, nur komplizierte Umwege, nicht umsonst sind viele Reformulierungen klasssicher Chypres total kastriert. Und wenn Du wirklich glaubst, es gäbe perfekte Doppelgänger natürlicher Stoffe, hast Du mit zu vielen Industrievertretern und zu wenigen Parfümeuren gesprochen - die schieben nämlich zu Recht einen unglaublichen Frust. Es wird weiterhin schöne Parfüms geben, aber der Kulturverlust angesichts der systematischen Zerstörung der Kernpalette klassischer haute parfumerie ist schlichtweg dramatisch - so wie es manch hirnlos-technokratische Flurbereinigung im Weinbau für Liebhaber der Rieslingkultur war (oder sinnlose Moselbrücken). Guerlain ist da nur ein Symptom von vielen, aber da schmerzt es halt besonders.
 
Das Thema "Reformulierung" beschäftigt mich auch. Sehe ich richtig, dass einige Düfte mehrfach reformuliert und damit auch mehrfach verschlechtert worden sind? Und hängt dies mit den mit der Zeit strikter gewordenen EU-Regularien zusammen?

Gibt es denn Klassiker, die gar nicht oder zumindest gut reformuliert worden sind? Was ist z.B. mit AdC Colonia, mit Habit Rouge, Chanel pour Monsieur, de Nicolai New York oder auch Knize Ten - um nur einige zu nennen?

Grüße
Balzac
 
Das Thema "Reformulierung" beschäftigt mich auch. Sehe ich richtig, dass einige Düfte mehrfach reformuliert und damit auch mehrfach verschlechtert worden sind? Und hängt dies mit den mit der Zeit strikter gewordenen EU-Regularien zusammen?

Gibt es denn Klassiker, die gar nicht oder zumindest gut reformuliert worden sind? Was ist z.B. mit AdC Colonia, mit Habit Rouge, Chanel pour Monsieur, de Nicolai New York oder auch Knize Ten - um nur einige zu nennen?

Grüße
Balzac

Es gibt vermutlich keinen Duft, der nicht reformuliert worden ist. In den letzten Jahren waren dafür IFRA/EU Vorgaben maßgeblich, aber manch Firma nutzt die Gelegenheit leider auch um Geld zu sparen. Daneben haben Marktanpassungen und Rohstoffmangel, bzw. Schwankungen immer auch schon eine Rolle gespielt. Es gibt Beispiele für gelungene Reformulierungen, aber in der Regel hat man es mit Verschlimmbesserungen zu tun. Es gibt seit Jahren z.B. keine zufriedenstellende Sandelholznote, welche echtes Mysore Sandalwood wirklich ersetzen könnte. Bergamot, Eichenmoss etc. pp. Die hlg. drei Könige mit ihrem Weihrauch, Myrrhe und Salben würden heute vermutlich erst mal 30 Tagessätze kriegen :D.
Colonia (war mal 100% natürlich), HR, Chanel pm sind reformuliert. Knize Ten mit Sicherheit (die Originalformel wäre heute verboten, ich hab's aber in vintage nie gerochen). Bei NY weiß ich es nicht. Habe nur die alte Version und ganz kritische Sachen sind außer Bergamot nicht drin, meine ich.
 
Dafür gibt es doch sicher belastbare, verlässliche Quellen, könntest Du die bitte nennen ?

Danke.

Es gibt da ein Problem mit den V-Männern. Weshalb ich auch strikt gegen ein übereiltes Chanel-Verbot bin :D.

Auszüge von gaschromatographischen Analysen liegen mir nicht vor (es gibt sie natürlich) . Dafür der Konsens unter Leuten, die sich mit Parfüms befassen. Es ist auch wirklich nicht so schwer. Einfach mal den Unterschied riechen, "come in and find out" quasi. Du kannst Dir aber gerne die Mühe machen, Daten über die Volumenanteile relevanter Materialen in den entsprechenden Düften zusammenzusuchen (Perfumer and Flavorist etc.) und mit den aktuellen Restriktionen abzugleichen. Z.T. kann man es auch aus der INCI-Deklaration ableiten, wenn man die alten und neuen Umverpackungen vergleicht. Oder einfach hunderte von Interviews im Netz recherchieren.

Z.B. Thierry Wasser, Hausparfümeur Guerlain, also quasi from the horse's mouth, wie man bei uns sagt:
I have to follow the rules of IFRA which the European Commission uses as the basis of their legislation. I am required to follow them, as does the fragrance industry globally.

IFRA recommendation #43 could have changed Mitsouko dramatically because of its regulation on oakmoss. My love for Mitsouko made me push the oakmoss supplier to get as close as possible to the original version without having the specific molecule which is not allowed by IFRA. I do have now a natural oakmoss which is IFRA approved.

Due to the IFRA regulations, there are some materials that I can’t even purchase anymore! Even if I wanted to make a reconstitution of a vintage Guerlain in the way it was originally created, I can’t find the raw materials! They are gone, the oil, the oil companies and growers are all long gone or discontinued.

You know, strictly for my own sake and education, I wanted to recompound Mitsouko, Shalimar, and L’Heure Bleue in their original forms but getting the raw materials required was not easy.

I went to Calabria and asked a supplier to provide me with the raw bergamot oil before any processing and I would able to recompound those classics. I also sourced some Musk Ambrette down in India. You have no idea of the amount of time, energy and patience it takes to track down practically non-existent raw materials and suppliers just to have them for my own use and knowledge to use in trials. These are ingredients that IFRA has deemed illegal for release to the general public, so even if I wanted to release a vintage version of a Guerlain fragrance, we cannot do so because of legislation.

http://www.basenotes.net/content/923-Thierry-Wasser-on-reformulation-and-IFRA-regulations
 
Tja, werter DgL, leider nicht das ganze Interview zitiert, es folgen noch einige Anmerkungen, z.B.

The problem for me lies in the fact that some bloggers or critics post their opinions as fact, or that their opinion becomes gospel. For example, if one influential blogger says, “The sun is green”, you inevitably have ten readers leaving comments saying “Yeah, it’s such a shame that the sun is green”.

Fiel mir hier auch auf ;-))

It’s always easier and more expected for a critic or a blogger to be negative than to say, “Wow, that fragrance is fantastic”.

I have recently read comments complaining that Jicky has been changed, but the absolute truth is that its ingredients have not been touched since 1984.

Das beschreibt es wohl am Besten :D:

I would like for people to experience fragrance personally and to make up their own minds instead of listening to someone playing teacher, teaching a lesson, in order to make themselves look clever and all knowing with information which can be inaccurate.

Many bloggers have also slammed LVMH and Bernard Arnault, who owns Guerlain Parfums, and this is something I would like to address. Mr. Arnault’s group, LVMH, is a mosaic of the best craftsmanship in Europe and the world. So when some bloggers pontificate about what I have done to some blends such as adding something, radically altering a formula or cheapening something, they are also insulting the integrity of LVMH and the numerous craftsmen who maintain its heritage. I take these types of insults personally.

Everything I do is to maintain the integrity of the House of Guerlain and it is something I take very seriously."

Daher vielen Dank für das Zitieren des Interviews

Bitteschön. Also, dass man sich sein eigenen Bild von einem Parfüm machen sollte kann ich nur unterschreiben. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Parfümindustrie schließt das ja nicht aus. Und Reformulierung als Standardpraxis der Industrie ist nun gerade wirklich nicht der Fantasie irgend eines eitlen Bloggers entsprungen. Die wären ggfs. auch weniger einflussreich, wenn es im Parfümbusiness auch nur den Hauch von so etwas wie Transparenz gäbe. Aber die meisten Häuser haben sich ja schon schwer damit getan, über Synthetik zu reden, geschweige denn über Reformulierungen.

Im Übrigen sehe ich es M. Wasser nach, dass er seinen Vorgesetzten und Arbeitgeber in Schutz nimmt und da die Firmenlinie vertritt. Ich fand es auch stets völlig OK mir anzuhören, was die Atomindustrie über Atomkraft so erzählt hat über die Jahre. Geglaubt habe ich es trotzdem nicht. Man kann sich ja mittels des Internets einen schönen Überblick über die Meinungsvielfalt zum Thema machen und dann abwägen. Was LVMH betrifft, haben denke ich genügend Forumsmitglieder Erfahrungen mit deren Produkten aus anderen Sparten, um zu beurteilen, wie weit es mit der handwerklichen Integrität dieses Konglomerats bestellt ist. Vgl. auch Dana Thomas Deluxe. How Luxury Lost its Luster, welches hier im Forum schon öfters erwähnt wurde:
http://www.amazon.com/Deluxe-How-Luxury-Lost-Luster/dp/1594201293

Letztlich: von Jicky war hier nicht die Rede. Und er hat ja eingestanden, dass es reformuliert wurde, wenn auch schon 1984.
 
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