Gelöschtes Mitglied 29180
Gast
Der so oft idealisierte Handwerker hat nach kapitalistischen Maximen letztlich keine Existenzberechtigung, da er schlicht nicht rentabel ist. Daß die individuelle Schneiderei erst in den 1950er-Jahren durch die Konfektionsindustrie verdrängt wurde, ist allein der Tatsache geschuldet, daß die nötigen Maschinen zur effizienten Verarbeitung zuvor noch nicht entwickelt worden waren.
Der Handwerker ist also von seiner Arbeit am wenigsten entfremdet, weil er, zumindest in der ursprünglichen Form, nicht von seinem Produkt durch Arbeitsteilung entfremdet ist). Ein Schneider muß eben nicht immerzu den gleichen Handgriff tun, sondern führt alle Arbeiten an verschiedensten Kleidungsstücken durch. Die Beziehung eines entfremdeten Arbeitenden zu seinem Produkt, für dessen Produktion er seine Lebenszeit aufwendet, hat allerdings psychologische Folgen: "Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen. Ihre Fremdheit tritt darin [...] hervor, daß, sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird. [...] Endlich erscheint die Äußerlichkeit der Arbeit für den Arbeiter darin, daß sie nicht sein eigen, sondern eines andern ist, daß sie ihm nicht gehört, daß er in ihr nicht sich selbst, sondern einem andern angehört "(Verweis). Was Marx hier darstellt, ist mittlerweile psychologisch-empirisch gut belegt. Die "Kapitalisten" haben jedoch ebenfalls psychologische Forschung zu ihren Zwecken betrieben, sowie die Umstände und Arbeitsbedingungen derart verändert, daß die (Lohn-)Arbeiter sich wohler in und mit der Arbeit fühlen, es ist ihnen in nur etwa 100 Jahren gelungen, "Arbeitsgefühle" zu erzeugen, um die Lohnarbeitenden profitabler arbeiten zu lassen (vgl. dazu: Donauer, Sabine: Faktor Freude: Wie die Wirtschaft Arbeitsgefühle erzeugt). Der Knecht ist damit effizienter, wenn man ihn nicht schlägt, bleibt aber natürlich Knecht.
Im übrigen ist der Kapitalismus auch nicht minder totalitär als der Kommunismus (man könnte sagen: er hat große Potentiale, die sich noch viel weiter ausbauen lassen, siehe auch: Zuboff, Shoshana: The Age of Surveillance Capitalism) .
Sein totalitärer Charakter liegt seinem Begriff des Eigentums. Es ist nicht möglich, sich konfliktfrei seinem Begriff von Eigentum und Grund zu entziehen. Für den Schutz der Eigentumsrechte ist denn der Staatsapparat mit Polizei, Militär und den anderen Gewalten, oder auch eine paramilitärische, jedenfalls gewaltvolle
Einheit zuständig, um diejenigen Individuen, welche den Eigentumsbegriff des Staates nicht teilen, diesem Begriff mit Gewalt zu unterwerfen (so ist das den amerikanischen Ureinwohnern geschehen, als Nordamerika kolonialisiert wurde). Gemeinschaftlich-dezentral verwaltete Gebiete, die dem kapitalistischen Eigentumsbegriff nicht entsprachen (auch in Europa war Gemeinden lange Zeit, zum Beispiel in England durch die carta foresta, die Bewirtschaftung derartiger commons garantiert), wurden Stück für Stück privatisiert und dem Eigentumsbegriff unterworfen.
Die gesamte Wirtschaft funktioniert momentan nach überkommenen Dogmen, dem Wettbewerb und dem Glauben an das unendliche Wachstum des Fortschrittes.
Das jahrelange Handeln nach diesen Dogmen hat uns nun eine ökologische Krisis erzeugt, die mittlerweile enorme Außmaße angenommen hat.
Makro- und Mikroplastik sind mittlerweile ubiquitär, schädigen in Meeren und Böden die sensiblen Flußgleichgewichte (1, 2, 3) der Ökosysteme, lassen Vögel und Meerestiere verenden und gelangen über das Krill in die marine Nahrungskette.
Die Klimakatastrophe ist natürlich ebenso bedeutend. Man sehe sich die Szenarien des IPCC an, wobei diese noch nicht einmal die Möglichkeit verfrühter Kippunkte (PONRs) berücksichtigen kann (dazu auch: 1). James Lovelock zufolge könne die dramatische klimatische Veränderung zu schweren Naturkatastrophen im globalen Süden und Norden, Desertifikation, großen (!) Flüchtlingsbewegungen oder sogar der Zerstörung großer Teile der westlichen Zivilisation führen (den Beleg hierfür finde ich gerade nicht, kann ich aber nachliefern).
Gleichzeitig wird in Südamerika und Asien weiterhin Urwald gerodet, um diesen durch kurzlebige (ungeschützt wird die dünne Hummusschicht der Böden nach kurzer Zeit durch die Monsun-Regenfälle weggeschwemmt) Plantagenkulturen zu ersetzen, auf welchen wegen der Nährstoffknappheit in enormen Maße Dünger, Pestizide, Herbizide und genetisch manipulierte Organismen (GMO) (übrigens: auf ca. 76 Prozent der Baumwollfelder wird GVO-Baumwolle angebaut), die das Versprechen der Hersteller, weniger Pestizide zu benötigen, häufig nicht erfüllen, womit häuig noch mehr Pestizide ausgebracht werden müssen, was in den Anbauregionen zu vielfach vermehrten Krebserkrankunngen führt. Mensch und Natur werden dort vergiftet, um hier mittels aus Soja und Mais erzeugtem Kraftfutter enorme Mengen an Fleisch und Milchwaren zu produzieren. Kleinbäuerliche Strukturen in den jeweiligen Ländern (auch hierzulande!) werden durch Wettbewerbsdruck des Marktes ("Get big or get out!") zugrunde gerichtet und durch monopolistische Monokulturen ersetzt (1, 2). Die Umweltfeindlichkeit der globalen Landwirtschaft hat steigende Mengen Düngers im Grundwasser, gleichbleibend hohe Emmissionen klimawirksamer Gase und gravierende Schädigungen der Pflanzen- und Tierwelt zur Folge. Die Auswirkungen des Menschen auf die planetare Biodiversität sind katastrophal. Möglicherweise verursachen wir Menschen gerade das größte Massenaussterben seit dem Aussterben der Dinosaurier (1, 2 ,3).
Aber es ist richtig, Menschen sind gut im Verdrängen unbequemer Tatsachen. Das war es, denke ich, auch, was @Plastronnadel meinte: ein mixtum compositum aus Bequemlichkeit, Hilflosigkeit (Quid faciam?) und Indifferentismus. Vielleicht hat Herr Rosling auch recht, und die Welt ist wirklich so rosig, wie er behauptet. Das Bulletin of the Atomic Scientists hat am 23.Januar übrigens seine Doomsday Clock auf 100 Sekunden vor Mitternacht gestellt. Möglicherweise handelt es sich bei den Wissenschaftlern jedoch nur um einige Pessimisten.
Interessante Analyse, zu der ich mangels Expertise auch nichts nicht-oberflächliches beizutragen hätte. Mich würde interessieren, welche Lösungsmöglichkeiten für die genannten Probleme es gäbe und realistischerweise in 1-2 Generationen umsetzbar wären. Ist eine ernst gemeinte Frage.