Lieber Bertone,
Sie weisen auf einen wichtigen Punkt hin. Wenn Begriffe immer weiter gefasst werden, sind sie irgendwann so überdehnt, dass ihnen keine echte Bedeutung mehr zukommt.
Ich denke in diesem Zusammenhang auch an andere Bereiche wie Kunst, Musik, Architektur. Man betrachte stellvertretend die Entwicklung des Begriffs "Kunst", so wie ihn das Bundesverfassungsgericht definiert.
Früher galt der formelle Kunstbegriff. Danach war Kunst, was sich einer anerkannten Werkform wie Malerei, Bildhauerei, Dichtung, Theater usw. zuordnen ließ. (Oder um es mit Karl Valentin zu sagen: "Kunst kommt von Können, nicht von Wollen, sonst würde es ja Wunst heißen".)
Die nunmehr vertretenen offenen oder materiellen Kunstbegriffe definieren Kunst schwammig als "schöpferische Gestaltung", als "Ausdruck des Künstlers", als "etwas, das der Interpretation zugänglich ist".
So kommt es, dass ein auf den Kopf gestelltes Urinal, eine leere Leinwand oder ein Fettfleck an der Wand plötzlich als Kunst verstanden werden.
Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff "Stil". Versteht man unter Stil alles, was der jeweilige Träger für schön und gut hält, sei es noch so unbegründet, verliert der Begriff völlig an Aussagekraft.
Nun halte ich es durchaus für eine positive Entwicklung, dass man für das erstmalige Tragen eines Zylinders auf den Straßen Londons nicht mehr mit einem Bußgeld wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses belegt wird. Das Pendel ist aber vom einen Extrem in das andere umgeschlagen. Heute geht scheinbar alles, hat scheinbar jeder "seinen Stil". Man kann sich nur schwerlich ein Outfit vorstellen, mit dem man noch öffentlich Ärgernis erregen könnte. Wenn sich doch jemand ablehnend äußert, gilt er als respektlos, intolerant, borniert, überheblich.
Ich persönlich empfinde die derzeitigen Zustände als überzogen liberal und halte es lieber konservativer. Ich würde mir wünschen, dass dem beschriebenen Studenten der Zutritt zur Oper, dem beschriebenen Mädchen der Zutritt zur Kirche verwehrt würde. (Wie es in anderen Länder Europas, etwa Italien, auch praktiziert wird.) Als respektlos und überheblich empfinde ich eher solche Menschen, die ihrer Umwelt alles, was ihnen gerade in den Sinn kommt, ungefiltert zumuten und dafür Toleranz einfordern.
Manchmal ist etwas eben einfach nur stillos. Nicht mehr und nicht weniger.