Auch wenn der desaströse Verlauf einer solchen Diskussion bereits in ihrem Kern enthalten ist, lasse ich mich zu einer Erläuterung hinreißen. Wer bin ich, dass ich mich einer solchen enhalten wollte, wenn sogar Linetti dazu schreibt?
Der Kern des Problems ist das unterschiedliche Verständnis von Begriffen wie "klassisch" oder "stilvoll".
Während einige unter Stil den "eigenen Stil" im Sinne von eigenem Geschmack verstehen, orientieren sich andere an objektiveren, abstrahierten Maßstäben.
Meiner bescheidenen Meinung nach hat der eigene Geschmack nichts mit Stil zu tun. Der Punk glaubt genauso an die Überlegenheit seines Geschmacks wie der Grufti. Der Langzeitstudent, der mit ungewaschenen Haaren und abgewetzter Jeans zu T-Shirt und Flip Flops in die Oper geht, findet seinen Geschmack genauso in Ordnung wie das vierzehnjährige Mädel, das auf mindestens einundzwanzig geschminkt und mit nicht viel mehr als einem knappen Gürtel bekleidet in der Kirchbank sitzt.
Geschmack mag für den Einzelnen also noch so universell wirken, er bleibt doch völlig relativ - und somit ohne echte Relevanz. (Gleiches gilt für Mode.)
"Stil", so wie ich den Begriff verstehe, ist eine an objektiven Werten wie Tradition, Proportion, Qualität und Handwerkskunst orientierte Denkweise. Stil ist dabei keine reine Rückwärtsgewandtheit, sondern kann durchaus eine Weiterentwicklung betreiben, die aber zwingend auf dem Überkommenen und sich als gut Erwiesenen aufbaut. Grundlage von Stil ist also stilistische Bildung, nicht zufälliger Geschmack.
Stil ist dezent und drängt sich nicht reißerisch auf, Stil ist seriös, nicht clownesk, Stil weiß um Qualität und Historie jedes Kleidungsstücks, Stil schert sich nicht um die Anerkennung durch andere, sondern genügt sich selbst.
Wenn also - wie bei den OdW häufiger geschehen - jemand in schlecht sitzenden lila und rot-orangenen Anzügen oder anderen schreienden Farbkombinationen, mit kneifenden Hemden und Hosen, mit dicken silbernen Knöpfen in Form von Totenköpfen mit roten Augen usf. auftritt und dann noch sich als über die "normale" Männerwelt erhabener Adonis wähnend vom erotisierenden Zuzwinkern bereits vergebener Damen schwärmt, ist er von Stil denkbar weit entfernt. Dann noch Toleranz einzufordern, ist eine gewagte These, begeht man doch durch die schrill sich jedem unausweichlich aufzwingende Zurschaustellung seiner Individualität eine grobe Frechheit.
Gerechtfertigt wird dieses dann oft mit dem Argument, man müsse die Regeln auch brechen. Müssen muss man nicht, Können kann man schon. Voraussetzung ist aber, dass man die Regeln beherrscht. Was uns aber teilweise an Stilbrüchen geboten wird, besteht nur noch aus "Brüchen", sodass für den "Stil" kein Platz mehr bleibt. Zudem sollte man sich klar machen, dass nicht jeder der Duke of Windsor ist - spoozy vielleicht ausgenommen.
Ich darf auf den Anlass zu dieser Diskussion zurückkommen: Ein Forenmitglied trug schwarz-weiße Vans, schwarz-weiße "dog tooth"-Strümpfe, eine "very worn" blue Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit belanglosem, aber zweifelsfrei coolem silbernem Schriftzug, dazu einen roten Shopper und Sonnenbrille. Muss ich wirklich erklären, was daran nicht stilvoll ist? Glauben Sie, ein solches Outfit ist geeignet, bei den Mitmenschen ein Vertrauen in die kulturelle Bildung und Seriostiät des Trägers zu wecken? Kann ein soziales Umfeld, in dem eine solche Kleidung angemessen ist, stilvoll sein?
Als ich auf dieses Forum stieß, tummelten sich hier Herren, die stilistische Bildung aufweisen konnten: Camlot, Linetti, Cravate Noire, Martin Richter, Sander, ddot, Algernon Worthingon u.a. Einige von ihnen schreiben gar nicht mehr, andere nur noch sehr sporadisch oder in betrunkenem Zustand.
Outfits von ihnen bekommt man kaum mehr zu sehen.
An ihre Stelle sind immer mehr Forenmitglieder getreten, die leider wenig stilistische Bildung aufweisen können, diese dafür durch "ihren eigenen Stil" ersetzen.
Nun darf zweifelsohne jeder nach seiner Facon selig werden. Mir selbst bringt dieses Forum aber zunehmend weniger an positiven Anregungen.