Zu wenig Klassik im Forum? (verschoben aus Wtih-Sammelthread)

Guten Morgen,

da es hier anscheinend u. a. um meine heißgeliebten Vans geht, schreibe ich natürlich auch noch etwas ausführlicher zu dem Thema, allerdings fehlt mir heute und morgen leider die Zeit.

Ich bitte um Nachsicht.

Nur soviel: Die in einem anderen Post erwähnte Dame im Supermarkt kennt mich seit Jahren als treuen Wasservielkäufer, sowohl in Shorts und Shirt, als auch in Anzug und Krawatte und die Bewunderung bezog sich eher auf die trotz Hitze konsequente Ausübung meiner vielleicht nicht unbedingt stilvollen, aber spaßbringenden freizeitlichen Aktivitäten :D.

So, jetzt muß ich mein Outfit zusammensuchen, der Zug geht bald :).

mfg
 
Was ist mit Studenten die so nicht in die Oper gehen sondern zb in die Schule?
So wie der Grufti und der Punk...

Haben diese, in ihren Augen, keinen Stil? Oder nur einen anderen Stil?

Nach deren Selbstverständnis haben sie Style -
Punk Style, Indie Style, Surfer Style, Emo Style, Nerd Style, Gothic Style und so weiter.

Diese Styles sind vielfältig/beliebig kombinierbar/austauschbar und ergeben dann den immer als individuell gekennzeichneten und als höchstpersönlich gerechtfertigten aber auch phasenhaft wechselnden My Style.


Etwas völlig anderes sind beispielsweise die erwähnten knalligen Anzüge oder die Totenkopf-Knöpfe. Hier schreit einem die Selbstdarstellung der Träger unverholen in´s Gesicht, ohne dass man sich dem entziehen könnte. Darin liegt für mich eine Selbstüberschätzung, die ich als ungehörig empfinde.
Die genannten Totenkopf-Embleme sind in diesem Zusammenhang beispielsweise schlichtweg modisch-affirmativ -
es stellt sich somit die Frage, welches Maß an Selbst(-Reflexion) in diesen genannten Beispielen (d.h. bei den Trägern) eigentlich vorhanden ist ?
 
Lieber Bertone,

Sie weisen auf einen wichtigen Punkt hin. Wenn Begriffe immer weiter gefasst werden, sind sie irgendwann so überdehnt, dass ihnen keine echte Bedeutung mehr zukommt.

Ich denke in diesem Zusammenhang auch an andere Bereiche wie Kunst, Musik, Architektur. Man betrachte stellvertretend die Entwicklung des Begriffs "Kunst", so wie ihn das Bundesverfassungsgericht definiert.

Früher galt der formelle Kunstbegriff. Danach war Kunst, was sich einer anerkannten Werkform wie Malerei, Bildhauerei, Dichtung, Theater usw. zuordnen ließ. (Oder um es mit Karl Valentin zu sagen: "Kunst kommt von Können, nicht von Wollen, sonst würde es ja Wunst heißen".)

Die nunmehr vertretenen offenen oder materiellen Kunstbegriffe definieren Kunst schwammig als "schöpferische Gestaltung", als "Ausdruck des Künstlers", als "etwas, das der Interpretation zugänglich ist".

So kommt es, dass ein auf den Kopf gestelltes Urinal, eine leere Leinwand oder ein Fettfleck an der Wand plötzlich als Kunst verstanden werden.

Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff "Stil". Versteht man unter Stil alles, was der jeweilige Träger für schön und gut hält, sei es noch so unbegründet, verliert der Begriff völlig an Aussagekraft.

Nun halte ich es durchaus für eine positive Entwicklung, dass man für das erstmalige Tragen eines Zylinders auf den Straßen Londons nicht mehr mit einem Bußgeld wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses belegt wird. Das Pendel ist aber vom einen Extrem in das andere umgeschlagen. Heute geht scheinbar alles, hat scheinbar jeder "seinen Stil". Man kann sich nur schwerlich ein Outfit vorstellen, mit dem man noch öffentlich Ärgernis erregen könnte. Wenn sich doch jemand ablehnend äußert, gilt er als respektlos, intolerant, borniert, überheblich.

Ich persönlich empfinde die derzeitigen Zustände als überzogen liberal und halte es lieber konservativer. Ich würde mir wünschen, dass dem beschriebenen Studenten der Zutritt zur Oper, dem beschriebenen Mädchen der Zutritt zur Kirche verwehrt würde. (Wie es in anderen Länder Europas, etwa Italien, auch praktiziert wird.) Als respektlos und überheblich empfinde ich eher solche Menschen, die ihrer Umwelt alles, was ihnen gerade in den Sinn kommt, ungefiltert zumuten und dafür Toleranz einfordern.

Manchmal ist etwas eben einfach nur stillos. Nicht mehr und nicht weniger.
 
Lieber Shop,

wenn Sie den Begriff so weit fassen wollen, dann hat auch ein Grufti Stil. Nur können Sie den Begriff "Stil" dann auch durch den Begriff "Sellerie" ersetzen, da er so überdehnt ist, dass er kaum mehr zur adäquaten Umschreibung bestimmter Gegenstände taugt.

Genau dieses ist ja mein Kritikpunkt an der Entwicklung im Forum. Wurde früher noch ein enger Stilbegriff im Sinne von wertig, traditionell, klassisch, "gentlemanlike" vertreten, ist mittlerweile ein weiter Stilbegriff im Sinne von persönlichem Geschmack, eines "anything goes" im Vordringen befindlich. Diese Entwicklung wird manchen sicher freuen, mir persönlich missfällt sie gründlich.
 
Meines Erachtens ist auch die Unterscheidung wichtig, ob jemand Stil hat oder ob jemand einen Stil hat. Bei letzterem übernimmt man einen Stil, den man für nachahmenswert hält und der augenscheinlich der sozialen Kaste, der man gerne angehören will, als Erkennungs- und Identifikationsmerkmal dient.

Da bleibt dann auch wenig Interpretationsspielraum und Mitmenschen werden gerne als stillos bezeichnet oder bestenfalls belehrt ("Der obere Knopf bleibt IMMER auf!", "No brown after six!" etc.)

Ein Aufsteiger mit Hausmeistermentalität bleibt aber auch in Bespoke, mit einem Glas Chateau Mouton Rothschild in der Hand und einer Beethoven-Vinyl auf dem Plattenteller nur der, der er leider nun mal ist. Da kann ihm "sein" Stil nicht helfen.

Menschen, die Stil haben, bewegen sich innerhalb eines selbstgewählten Spektrums und agieren in diesem Spektrum selbstsicher, eigenverantwortlich und bestenfalls mit einer gewissen Ironie sich selbst gegenüber. Der Stil dient hierbei nie der Abgrenzung zu anderen, sondern ausschließlich der Betonung eigener Vorstellungen von Ästhetik und Wertvorstellungen. Die Kleidung ist hierbei eine Facette des Stils - und meines Erachtens eine der unwichtigeren.

Ich hoffe für meinen Teil, zur zweiten Gruppe zu gehören.
 
Lieber Bertone,

Sie weisen auf einen wichtigen Punkt hin. Wenn Begriffe immer weiter gefasst werden, sind sie irgendwann so überdehnt, dass ihnen keine echte Bedeutung mehr zukommt.

Ich denke in diesem Zusammenhang auch an andere Bereiche wie Kunst, Musik, Architektur. Man betrachte stellvertretend die Entwicklung des Begriffs "Kunst", so wie ihn das Bundesverfassungsgericht definiert.

Früher galt der formelle Kunstbegriff. Danach war Kunst, was sich einer anerkannten Werkform wie Malerei, Bildhauerei, Dichtung, Theater usw. zuordnen ließ. (Oder um es mit Karl Valentin zu sagen: "Kunst kommt von Können, nicht von Wollen, sonst würde es ja Wunst heißen".)

Die nunmehr vertretenen offenen oder materiellen Kunstbegriffe definieren Kunst schwammig als "schöpferische Gestaltung", als "Ausdruck des Künstlers", als "etwas, das der Interpretation zugänglich ist".

So kommt es, dass ein auf den Kopf gestelltes Urinal, eine leere Leinwand oder ein Fettfleck an der Wand plötzlich als Kunst verstanden werden.

Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff "Stil". Versteht man unter Stil alles, was der jeweilige Träger für schön und gut hält, sei es noch so unbegründet, verliert der Begriff völlig an Aussagekraft.

Nun halte ich es durchaus für eine positive Entwicklung, dass man für das erstmalige Tragen eines Zylinders auf den Straßen Londons nicht mehr mit einem Bußgeld wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses belegt wird. Das Pendel ist aber vom einen Extrem in das andere umgeschlagen. Heute geht scheinbar alles, hat scheinbar jeder "seinen Stil". Man kann sich nur schwerlich ein Outfit vorstellen, mit dem man noch öffentlich Ärgernis erregen könnte. Wenn sich doch jemand ablehnend äußert, gilt er als respektlos, intolerant, borniert, überheblich.

Ich persönlich empfinde die derzeitigen Zustände als überzogen liberal und halte es lieber konservativer. Ich würde mir wünschen, dass dem beschriebenen Studenten der Zutritt zur Oper, dem beschriebenen Mädchen der Zutritt zur Kirche verwehrt würde. (Wie es in anderen Länder Europas, etwa Italien, auch praktiziert wird.) Als respektlos und überheblich empfinde ich eher solche Menschen, die ihrer Umwelt alles, was ihnen gerade in den Sinn kommt, ungefiltert zumuten und dafür Toleranz einfordern.

Manchmal ist etwas eben einfach nur stillos. Nicht mehr und nicht weniger.

Ja, das ist das Elend der Demokratie und des Pluralismus. Ich gebe zu bedenken: Stil, wie Sie ihn hier definieren hat sehr viel mit Distinktion, mit Herrschaftswissen, mit der sartorialen Bestätigung von Machtverhältnissen zu tun. Im feinen Zwirn in die Oper zu gehen hatte mindestens so viel damit zu tun, sich durch die Deklinierung komplexer Dress- und Verhaltenscodes kollektiv seines Status als gehobener Bourgeois zu vergewisseren als mit der Liebe zu Verdi - meistens mehr. Mir ist da fast lieber, ein langhaariger Student im Schlabbershirt geht in die Oper, weil er Verdi anhimmelt.
Wie dem auch sei, diese alten Bekleidungscodes greifen heute nicht mehr gesamtgesellschaftlich und das ist für Liebhaber einer klassischen Herrenmode, welche früher an Herrschaftsdiskurse gebunden war, eine Befreiung, weil sich jetzt die von spoozy betonte Komponente des Sartorialen, nämlich die Pflege eines bestimmten Stilempfindens auf der Basis der von Brummel begründeten Prinzipien, zum Zwecke des Ausdrucks der eigenen Persönlichkeit hervorkehrt. Zu dem Preis, das man auch anderen Bekleidungssubkulturen dieses Recht zugesteht. Es wird hier gerne das Wort "clownesk" pejorativ für Extravaganz oder Dandytum verwendet. Für die mehrheit der Bevölkerung, besonders unter 25, wirkt wahrscheinlich schon ein Blazer mit Goldknöpfen clownesk?! Nu? Ich mache mir wesentlich mehr Sorgen darum, dass viele Menschen das Grundgesetz vergessen haben, als was ein four-in-hand ist. Und es ist schön, das wir in "communities" zusammenkommen können, wo wir uns über unsere jeweiligen Vorlieben austauschen und auch zivilisiert auseinandersetzen können. Wenn Ihnen hier "Klassizisten" fehlen: rufen Sie sie herbei! Posten Sie Ihre Outfits! Oder machen Sie ihr eigenes Blog/Forum auf - strictly classics. Aber andere Menschen zu desavouieren die Ihr Stilverständnis nicht teilen, und das zum Teil in einer Art und Weise, dass man den Eindruck bekommt hier werden innere Konflikte projeziert, ist - nach meinem Verständnis - unangemessen und verquer elitär.
 
Irgendwie liegt der Fehler darin, dass alle ihr (Eigen-?)verständnis oder gewisse details unter "Stil" subsumieren wollen - was hinterher in einem Wirrwarr endet.
 
ein weiter Stilbegriff im Sinne von persönlichem Geschmack, eines "anything goes" im Vordringen befindlich.

Das ist wohl ein klassisches Dilemma der Post-Moderne. :rolleyes:
Ich denke, man kann gar nichts dagegen tun...
Der Trick: Der Stil-Postmoderne als solcher mit ihrer sich ausdifferenzierenden Pluralisierung bis hin zum beliebigen mixtum compositum liesse sich eine ebenso "ausdifferenzierende Sprach- und Argumentationskultur" entgegensetzen, die wiederum für eine entsprechende Veranschaulichung und Konkretisierung der Begriffe/Bedeutungen sorgt - zumindest hier im Forum.


Also:
Manchmal ist etwas eben einfach nur stillos. Nicht mehr und nicht weniger.
Das ist sicherlich manchmal richtig, in den genannten Beispielen wird aber auch präzisierender mit fehlender Angemessenheit bzw. Respektlosigkeit argumentiert.

Dies auch unter dem Aspekt, dass zu den am häufigsten verwendeten Attributen hier im Stilmagazin die Begriffe "stillos" und "stilvoll" gehören...


Es wird hier gerne das Wort "clownesk" pejorativ für Extravaganz oder Dandytum verwendet.
Das ist in der Tat nicht schön und wird auch dem Clown nicht gerecht, der für gewöhnlich roncalliesk seine Zuschauer humorbeseelt und lachverzaubert.

Man sollte (s.o.) ausführlicher begründen, was einem aus welchem Grund nicht gefällt -
sei es um den eigenen Stilbegriff oder auch nur Geschmack zu verdeutlichen
(oder um eigene Abwehrmechanismen verständlicher zu machen...).

Ich muss aber zugeben, dass ich für einige Extravaganzen (natürlich nicht hier im Forum resp. von Mitgliedern) auch gerne den Begriff "blogospherisch-beifallheischend" verwende. :)
 
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