Tja, mit derselben Berechtigung sagt sich der Typ am Nachbartisch: "Was für ein Schnösel, mit seiner steifen, formalen Kleidung vermiest er mir hier den entspannten Restaurantabend. Der soll sich doch umschauen: sowas ist hier absolut unüblich und deplaziert."
Ja, das sagt er sich. Und das darf er auch. Die Gedanken sind frei.
Objektiv betrachtet tue ich mich schwer einer der beiden Ansichten den Vorzug zuzusprechen.
"Objektiv" gibt es bei dieser Frage m.E. nicht. Objektiv hieße, dass es eine vom Menschen unabhängige Instanz gäbe. Die gibt es nicht, das Zusammengehörigkeitsgefühl und der persönliche Genuss einer Horde schön gekleideter Menschen ein rein subjektives Empfinden ist. Sind 100 Menschen in einem Raum, gibt es 100 subjektive Empfindungen über die Situation, aber keine einizige ist objektiv.
Da ist ein "soll ein jeder nach seiner Fasson selig werden" noch der brauchbarste Kompromiss.
Ich möchte auch, dass jeder glücklich wird. Das schließt aber nicht aus, dass Menschen das Glücklichwerden von anderen Menschen lernen können. Sehr viele kulturelle Genüsse des Menschen müssen erst mühsam erlernt werden - Lesen, Musikgenuss, Kunstverständnis, ästhetisches Empfinden, kulinarische Genüsse. Wenn ein erfahrener Weinkenner und ein Weinbanause eine Weinprobe besuchen, gibt es hinterher zwei subjektive Erkenntnisse über die Qualität der Weine. Dennoch werte ich die Meinung des erfahrenen Weinkenners als maßgeblich und die des Weinbanausen nicht.
Das Recht zu bestimmen was falsch und was richtig ist liegt wohl einzig und allein beim Gastgeber/Betreiber.
Ach was. Der hat am wenigsten Ahnung, der will nur Geld verdienen.
Gesellschaftliche Korrektheit ist immer im Wandel.
Es geht mir nicht um Korrektheit. "Korrekt" mag sein, was irgend einer Regel entspricht, und bei der Regelfindung mag eine Mehrheit oder sonstwas ausschlaggebend sein. Gemäß der Regeln war das Rauchen in Restaurants mal "korrekt" und jetzt ist es das nicht mehr. Als rücksichtslos empfand ich es schon immer, ganz gleich was die Gesetzeslage sagt.
Richtig tolle Beispiele gibt es doch bei den "Pinguinen" hier, die immer mal wieder mit Freude und Leidenschaft ihre Sache vertreten. Sich voll und ganz auf sich konzentrieren und die anderen Leute halt Leut sein lassen. So hält man Werte auf angenehme Weise hoch.
Ich sage ja auch nicht, dass eine selbst ernannte Instanz den Leuten Vorschriften machen sollte. Mein Wunsch ist, dass die Menschen von selbst ihren Hals nicht stumpf nach der Mehrheit drehen ("alle kommen im T-Shirt, also komme ich auch im T-Shirt"), sondern versuchen, von demjenigen zu lernen, der aufgrund einer mühsamen und intensiven Beschäftigung mit dem Genuss am meisten Erfahrung damit hat, ein Ereignis besonders erlebenswert zu machen.
Wieder die normative Kraft des Faktischen: Als einzelner Pinguin bin ich deplaziert, im Pinguinrudel (oder Schwarm? Wie sagt man eigentlich bei Pinguinen?) hingegen wieder gut aufgehoben, da verschieben wir selber die Skala was "üblich" und "angemessen" ist. Zumindest für den einen Abend.
Die Mehrheitsverhältnisse sind meiner Ansicht nach nicht maßgeblich für die Frage, wer etwas richtig macht und wer nicht. Dass der Mensch sich in der Mehrheit wohler und beschützter fühlt als in der Minderheit (und dementsprechend auch keine blöden Blicke bekommt), steht auf einem ganz anderen Blatt.