Ich möchte noch mal auf den Begriff "Anstand" zurückkommen oder auch "Höflichkeit" – wohl wissend, dass die Definition bei beiden unterschiedlich ist. Jedoch greifen beide zumeist dann, wenn die Empathie versagt bzw. aus welchen Gründen auch immer nicht möglich ist. Es sind bewährte, gelernte und allgemein akzeptierte Mechanismen, die soziale Reibungen und Konflikte vermeiden oder zumindest abschwächen.
In unserem Kulturkreis (D) handelt man sich damit allerdings relativ schnell den Vorwurf der Unaufrichtigkeit oder eben des "Rollenspiels" ein. Wer schon einmal hierzulande die entrüstete Reaktion einer Dame abbekommen hat, der man lediglich die Tür aufhalten oder gar in den Mantel helfen wollte, weiß vielleicht, was ich meine. In Österreich beispielsweise wird das (zumindest meiner Erfahrung nach) schon häufiger als das gesehen, was es ist – nämlich nicht als ein Ausdruck der Bevormundung, sondern der Wertschätzung.
Ja, Etikette kann manchmal manieriert wirken, Höflichkeit aufgesetzt und Anteilnahme geheuchelt – und häufig sind sie das auch. Doch auch wenn die Anwendung solcher ungeschriebenen Verhaltensregeln rein gar nichts bewirkt – eines signalisieren sie doch in jedem Fall: Dass ich mein Gegenüber als ein denkendes, fühlendes Individuum wahrgenommen habe und dass ich ihn eines Mindestmaßes an Respekt für wert erachte. Auch wenn ich es insgeheim vielleicht nicht erwarten kann, dass er wieder aus meinem Gesichtsfeld verschwindet.
Mit anderen Worten: Ein barsches "Ihr Geschwätz interessiert mich nicht" und ein gelangweiltes "Was Sie nicht sagen" haben mehr oder weniger dieselbe Botschaft. Die Reaktionen darauf sind aber meist sehr unterschiedlich. Umgangsformen und Höflichkeitsfloskeln sind das Stück Zucker, mit dem sich die bittere Medizin der Kritik leichter verabreichen lässt. Das hat m. E. nichts mit Unaufrichtigkeit oder Maskerade zu tun, sondern mit Diplomatie oder Schadensbegrenzung.
Nachtrag: Was mich allerdings manchmal die Regeln des Anstands vergessen lässt, ist der gedankenlose und inflationäre Gebrauch des Begriffs "Gutmensch" (häufig in Verbindung mit "politisch korrekt") – auch hier im Forum. Ja, ich weiß, was damit gemeint ist und ja, mich bringen moralinsaure Zeitgenossen, die die Wahrheit gepachtet haben, auch häufig auf die Palme. Was mich aber an "Gutmensch" so stört, ist die subtil-aggressive, undifferenzierte und gedankenlose Diffamierung all jener, die ihrem Gegenüber bei der ersten Meinungsverschiedenheit nicht sofort verbal auf die Fresse hauen, sondern vielleicht eher den Konsens als den Konflikt suchen. Das ist in meinen Augen vielmehr eine charakterliche Stärke, jedenfalls eher als unreflektiertes Stammtischgepolter. Es gab auch mal eine Zeit, da waren "Demokrat" und "Pazifist" Schimpfworte – und ich persönlich bin froh, dass sie vorbei sind.
Huch! Sorry, doch sehr lang geworden, der Beitrag.