1. Kultureller Grund:
Die Gabe von Trinkgeldern im deutschsprachigen Raum ist seit dem Mittelalter nachgewiesen und erfreut sich somit einer langen Tradition. Es ist ein über Generationen weitergegebenes Kulturobjekt, das dadurch zur tradierten Konvention wurde und deren Einhaltung von der Majorität der Bevölkerung vorausgesetzt wird. Die Einhaltung dieser allgemein üblichen Sitte ist zum einen ein Anerkenntnis dieser und zum anderen ein respektvoller Umgang mit den Gebräuchen eines Kulturraums.
Sagen wir's mal so, auch das Trinkgeld hat seine zwei Seiten, nämlich der Einkommensbedarf des Nehmenden und die Statusdemonstration des Gebenden. Letzteres ist so alt wie die Aristokratie, Noblesse oblige, die demonstrative Großzügigkeit als Ausdruck des Vornehmen gegenüber den niederen Ständen. Bei Geschäften mit Gleichrangigen war das nämlich interessanterweise kein Thema, da drückte sich die Großzügigkeit eher in gegenseitigen Einladungen aus.
Unser Trinkgeld ist, wie so vieles andere, was wir im Forum besprechen, eine bürgerliche Kopie davon, einerseits als Dank an den Bediensteten, wie ein Aristokrat behandelt worden zu sein, andererseits zum Zeigen der eigenen Solvenz, sich selbst, dem Empfänger und anderen Anwesenden gegenüber, quasi eine Art Kauf von sichtbarem Status.
Ich beuge mich dieser Tradition auch und gebe hier in Deutschland Trinkgelder um 5-10%. Aber ich mag sie nicht, wie jedes Relikt aus den alten Almosengesellschaften, die das Almosen als Steuerungsmittel und als Symbol benutzten, um den Empfängern ihren niederen Platz in der Gesellschaft vor Augen zu führen. Diese Bräuche waren eine ritualisierte Erniedrigung zur Zementierung von bestehenden sozialen Ungleichgewichten in den alten Feudalgesellschaften.
Ich empfinde Großzügigkeit - nicht nur pekuniäre - als eine Voraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft. Mir erscheint dann aber die fiskale Großzügigkeit im Sinne von "klaglos seine Steuern zu zahlen" als der wesentlich passendere Weg als das Verteilen von Almosen, für die sich der Empfänger dann gefälligst bedanken soll. Auf's Trinkgeld bezogen sollten einfach die Gehälter entsprechend angepasst sein und nicht die Einrechnung von willkürlichen Geschenken hintergründig enthalten.