Nein. Wie im Artikel zu Recht gesagt wird, resultieren gute Manieren aus einer bestimmten inneren Haltung.
Ich glaube, das ist eine romantische Verklärung des Umgangs von Menschen in der Gesellschaft miteinander. Neben den paar Hundert Menschen, die ich kenne und schätze, gibt es auch viele Hunderttausend, die ich nicht kenne und auch nicht einschätzen kann. Einige sind sicher superklassetoll und andere ganz bestimmt widerwärtige Stinkstiefel.
"Umgangsformen" geben mir eine neutrale, wertbefreite und akzeptierte Art, mit diesen Menschen umzugehen, ohne ihnen auf die Füße zu treten und ohne ständig auf die Füße getreten zu werden. Sie sind ein Code, der das Leben in Gesellschaft in Summe für alle Beteiligten angenehm und erträglich macht, zumal ja auch viele medizinische Themen den Einzug in die Umgangsformen gefunden haben, von denen wir einige heute mangels der Lebensbedrohung durch Krankheiten gar nicht mehr nachvollziehen können (Essen nicht mit den Fingern anfassen, beim Niesen die Hand vor den Mund halten, nach dem Toilettengang die Hände waschen...).
Normalerweise wurden diese Umgangsformen mit hohem sozialen Druck an nachfolgende Generationen weitergegeben, da man es sich in einer Gesellschaft einfach nicht leisten kann, jahrelang auf die selbstbestimmte Entscheidung des Menschen für anständiges Benehmen zu warten. Diese Weitergabe ist nicht per se zu verteufeln. Auch Tugenden wie Tapferkeit, Mut, Anstand, Fairness, Ehrlichkeit etc. müssen mit Druck weitergegeben werden, da sich sonst zu viele Menschen aus Eigennutz gegen sie entscheiden.
Möglicherweise war der soziale Konsens in früheren konservativ-spießigen Zeiten Deutschlands mehr auf Einhaltung von stupide eindressierten Benehmensfragmenten geeicht, die oberflächlich so aussehen sollten, als hätte man gute Manieren.
Möglicherweise, ja. Ich glaube aber, dass man unseren Vorfahren damit Unrecht tut. Aus der Perspektive der Spätgeborenen heraus ist es doch gar nicht möglich, im Nachhinein die wahre Gesinnung der Menschen zu beurteilen, die uns ja immerhin eine offene, sichere, wohlhabende und freie Welt hinterlassen haben. So schlecht können sie nicht gewesen sein, die Altvorderen. Natürlich kann man einzelne Aspekte herausgreifen und diese aus heutigem Kontext heraus verteufeln. Genauso wird man Aspekte der heute vorherrschenden Meinung herausgreifen und im Nachhinein verteufeln (Pazifismus? Den Widerstand gegen Stromtrassen? Entwicklungshilfe? Selfies auf Facebook? Das Stilmagazin? Die freiwillige Offenlegung von Daten gegenüber Großkonzernen wie Google, Apple etc.? Drohnen?). Man kann Manieren nicht ohne den Kontext beurteilen.
Aber die innere Haltung, die erst die bewusste Entscheidung für ein höfliches, respektvolles Verhalten ohne den äußeren Druck sozialer Normen hervorruft, ist ein konstanter Faktor in der menschlichen Entwicklung, vermutlich unverändert unterirdisch seit der Steinzeit.
"Die Gedanken sind frei" sagte ein Lied aus der Revolution. So sollten wir es halten. Mir ist es ehrlich gesagt schnuppe, ob ein Fremder mich mag, solange er durch seinen Umgang eine angemessene Distanz zu mir hält. Zu diesem Umgang kann er meinetwegen auch durch sozialen Druck gekommen sein. Respekt vor der Polizei habe ich auch nicht, weil ich die Polizisten persönlich kenne und mag.
Ich halte eine eigene Entscheidung für oder gegen einen gewissen Umgang sowieso nicht für 100%ig trennbar von Erziehung und sozialen Normen.