Krawatte in der Freizeit

Leute, Ihr redet euch wieder in Rage für ein rein hypothetisches Modell. War in den letzten drei Jahren mal einer auf der Strasse?

Zum einen bin ich überzeugt, das klassische Bildungsbürgertum in Deutschland ist ausgestorben. Entweder handelt es sich um pseudointelektuelle Möchtegern oder um desinteressierte Emporkömmlinge. Nicht zu vergessen das neureiche Proletenpack und die ewigGestrigen ( früher war alles besser ). Unter all diesem Volk findet man Ausnahmen nur noch in homöopathischen Dosen. Den letzten Bildungsbürger humanistischer Prägung haben Sie 1971 an der Aussenalter erlegt.

Durch die egalitäre Gleichmacherei und dem, fast schon hysterischen, Bemühen um politische Korrektheit in den letzten 40 Jahren hat sich die Lage sicher nicht verbessert. Dazu kommt, das den meisten Männern seit den 70ern die Schwänze weggezüchtet worden und eine fast schon peinliche Disziplinlosigkeit herrscht. Lässt man dem Manne seinen Willen, wird er die leichteste Lösung wählen. Voilá, Latschen, Sweatshirts und Schlabberhosen.

DAS ist die Realität, alles andere ist Wunschdenken, Fiktion und gelegentliche Ausflüge in die Welt der Ausnahmen.

Für die Betroffenheitspolemiker: Das ist natürlich auch verallgemeinernd, entspricht aber leider der Realität der deutschen Landschaft.

Also, in Rage redet sich hier bisher eigentlich nur einer.

Gibt es eigentlich außerhalb Deines engeren Familien- und Freundeskreises - alles zweifellos very civilized people - in Deinem Weltbild noch irgendwelche halbwegs erträglichen Zeitgenossen, oder bist Du ausschließlich von Pack umgeben?
 
Ich habe mich mal mit einem evangelischen Pfarrer über Kleidung unterhalten. Seine Richtung ist ein bewusstes dressing-down um die Kluft zwischen sich und seinen Schäfchen zu verkleinern. Wenn er mit schwarzem Anzug und Krawatte auftaucht ist das im Gemeindeleben nicht hilfreich. Auch nicht beim Pfarrfest. Sakko ist in 90% der Fälle schon too much.

Schliesse mich dem Votum von miles an ....

bin zwar offiziell katholisch (oder war es vielleicht einmal ...) glaube aber, dass Dein evangelischer Pfarrer möglicherweise eines zu übersehen scheint: die grösste Wirkung "im Gemeindeleben" wird er erzielen, wenn er zwar durchaus zugänglich, gleichzeitig aber auch als Respektsperson erscheint (Ratschläge eines Saufkumpans werden nun halt mal nicht als gleich wertvoll angesehen als solche eines Honorartioren); dafür benötigt er zwar nicht unbedingt schwarzen Anzug und Krawatte aber ein "bewusstes dressing-down" scheint mir eher in Richtung Anbiederung zu gehen, was m.E. dem Respekt von Seiten der Umgebung wenig förderlich ist ....
 
als solche eines Honorartioren); dafür benötigt er zwar nicht unbedingt schwarzen Anzug und Krawatte aber ein "bewusstes dressing-down" scheint mir eher in Richtung Anbiederung zu gehen, was m.E. dem Respekt von Seiten der Umgebung wenig förderlich ist ....

Vielleicht war "dressing-down" missverständlich. Tuchhose, Langarmhemd und Schuhe auf Lloyd-Niveau, in die Richtung geht das. Im Forenkontext ist das runtergekleidet, bei ihm in der Gegend ein seriöses, aber eben kein distanzerzeugendes Auftreten.
 
Eine Frage hätte ich allerdings mal: Gibt es auch Leute unter Euch, die auf der Arbeit Anzüge oder zumindest mal Kombinationen mit Krawatten tragen, wenn der Rest (insbesondere der Chef) das nicht tut oder gar nur in Hemdsärmeln (oder T-Shirt Ärmeln) herumläuft? Ich weiß, die Frage war eigentlich nach Krawatten in der Freizeit, aber wo es gerade um Außenwirkung geht, würde mich besonders dieser Aspekt wirklich sehr interessieren. Außerdem sollen ja die modernen "Dresscodes" in Büros auch den Freizeitkontext simulieren...


Ja, mach ich. Bei uns hat nur der Chef Anzug an. Ich komme immer in Kombination + Krawatte. Warum? Ich habe einfach Lust an verschiedenen Stoffen, Kombinationen, Passformen etc. Das ist eigentlich der einzige Grund. ich mag das einfach.

Vom Umfeld bekomme ich eigentlich nur positive Rückmeldungne, wenn überhaupt. habe natürlich das Glück, so in die Arbeit zu gehen, wie ich will. Jeans und Pulli wären auch möglich. Ist bei uns egal.

Daher kann ich das Kleidungsthema supergut genießen. Und das tu ich. Sind also ästhetische Gründe. Nix mit Distiktion oder so.
 
[..](Ratschläge eines Saufkumpans werden nun halt mal nicht als gleich wertvoll angesehen als solche eines Honorartioren);

Die fehlende Kompetenz des "Saufkumpanen" in Sachen Lebensratschläge resultiert sicherlich nicht aus dessen Kleidung. Von daher ist dieser Vergleich wohl nicht ganz passend.

Ob eine Krawatte in der Freizeit getragen wird oder nicht, hängt einfach vom persönlichen Stil des einzelnen ab und vor allem von der Selbstverständlichkeit, mit der diese getragen wird. Ist es für mich "normal", dann wirke ich auch nicht aufgesetzt oder verkleidet.

Gleiches gilt aber genauso andersherum. Verkleidet kann ich auch in Jeans und T-Shirt wirken.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ob eine Krawatte in der Freizeit getragen wird oder nicht, hängt einfach vom persönlichen Stil des einzelnen ab und vor allem von der Selbstverständlichkeit, mit der diese getragen wird. Ist es für mich "normal", dann wirke ich auch nicht aufgesetzt oder verkleidet.

Es kommt immer auch auf den Empfänger an. Du signalisierst vielleicht "hey, ich bin auch mit Krawatte entspannt und locker, alles ganz easy", aber der Empfänger im ausgebeulten Jogginganzug nimmt dennoch eine erhebliche Distanz wahr. Und das ist in der Seelsorge nicht hilfreich. In Berufen wo es auch darum geht Kontakt mit Menschen am Rande der Gesellschaft aufzunehmen, zu allen sozialen Schichten schnell ein vertrauensvolles Verhältnis aufbauen zu können ist "extreme" Kleidung in jeder Richtung vermutlich problematisch. Zum Traugespräch in der Mittelklasse schnell ein Sakko überwerfen, für die Beerdigung noch eine Krawatte dazu, zum Konfirmandenunterricht beides wieder ausziehen, und für den Obdachtlosennachmittag die Ärmel aufrollen und einen Hemdknopf mehr aufmachen.

Ich kann gerne das, was ich seit gestern wiederhole, auch kurz zusammenfassen: Wenn man sich auf seine Mitmenschen einstellen will oder muss ist eine Krawatte (als Synonym für "sartoriale Kleidung") nicht immer sinnvoll.
 
Es kommt immer auch auf den Empfänger an. Du signalisierst vielleicht "hey, ich bin auch mit Krawatte entspannt und locker, alles ganz easy", aber der Empfänger im ausgebeulten Jogginganzug nimmt dennoch eine erhebliche Distanz wahr. Und das ist in der Seelsorge nicht hilfreich. In Berufen wo es auch darum geht Kontakt mit Menschen am Rande der Gesellschaft aufzunehmen, zu allen sozialen Schichten schnell ein vertrauensvolles Verhältnis aufbauen zu können ist "extreme" Kleidung in jeder Richtung vermutlich problematisch. Zum Traugespräch in der Mittelklasse schnell ein Sakko überwerfen, für die Beerdigung noch eine Krawatte dazu, zum Konfirmandenunterricht beides wieder ausziehen, und für den Obdachtlosennachmittag die Ärmel aufrollen und einen Hemdknopf mehr aufmachen.

Ich kann gerne das, was ich seit gestern wiederhole, auch kurz zusammenfassen: Wenn man sich auf seine Mitmenschen einstellen will oder muss ist eine Krawatte (als Synonym für "sartoriale Kleidung") nicht immer sinnvoll.
Ich kenne wirklich viele evangelische Pfarrer, 12 Jahre Kirchenvorstand, viele Jahre Dekanatssyndode und -ausschuss, Stiftungsvorstand bringen einen da ganz gut rum. Für 90% der Pfarrer scheint die oberste Devise zu sein, dass man kleidungsmäßig ungefähr das Klischee Oberstudienrat treffen sollte (aber auf jeden Fall eine Nummer lockerer als der katholisch Kollege), wobei Facetten von Öko bis spießiger Kinnbartträger zulässig sind.

Unabhängig davon finde ich, dass man diejenigen Pfarrer, die wirklich guten Zugang zu den Leuten gewinnen, ziemlich schnell erkennt und es bei denen auch egal ist, welche Kleidung sie tragen. Die Pfarrer, die gerne Krawatte tragen, sollten das ob der gewählten Krawatten zwar meist besser sein lassen, aber ihre seelsorgerische Tätigkeit hat das wirklich nicht beeinträchtigt ...

Seit ich bei der letzten Hochzeitseinladung einen katholischen Pfarrer erlebt habe, der in schwarzem T-Shirt, schwarzen Jeans und schwarzen Bequemschuhen zum Kaffee nach der Trauung angetreten ist, wundert mich eh nichts mehr.
 
Seit ich bei der letzten Hochzeitseinladung einen katholischen Pfarrer erlebt habe, der in schwarzem T-Shirt, schwarzen Jeans und schwarzen Bequemschuhen zum Kaffee nach der Trauung angetreten ist, wundert mich eh nichts mehr.

Nikolaus, gibt es bei den Protestanten denn eine "Freizeittracht" für Priester. Davon war ich unwissenderweise nämlich ausgegangen. Der Priester ist - nicht nur als Vertreter der Kirche - ja idealerweise eine Repräsentations- und Vorbildsfigur.
Dazu sollte er zwar voll in die Gemeinde integriert sein, aber doch den nötigen Abstand haben, die die Würde des Amtes gebietet.
Dazu gehört auch die Kleidung. Das katholische Kirchenrecht schreibt vor, daß der Priester als solcher stets zu erkennen sein muß.
Der Priester aus Deinem Beispiel, Lionel, hat also im Grunde damit gegen geltendes Kirchenrecht verstoßen...
Natürlich hat man da auch als Priester Spielräume. Kurzarmhemd mit "Priesterkragen" erfüllt die Anforderungen ja genau so wie die (herrlichen) Soutanen.
Der Pfarrer muß also nicht zwingend in Full Dress zum Sommerfest erscheinen, er sollte aber doch die Würde des Amtes ausreichend repräsentieren.
Sollte es solche freizeitliche Priesterkleidung in der protestantischen Kirche nicht geben, fände ich das zumindest äußerst schade!
 
Ich weiß nicht , wie es den anderen geht: aber ich habe soeben die Begriffe 'Freiwillige Feuerwehr' und 'Grillfest' bildgegoogelt und hätte jetzt richtig Appetit auf Schwenkbraten und Most, vorher müsste natürlich ein stundenlanges Anprobieren der geeigneten Kombinationen vor dem Kleiderschrank stattfinden:
"Erst die Arbeit - dann das Vergnügen !" :)

Zu der Pfarrersituation eine kleine Anekdote: Neulich probierte ich bei einem Wohltätigkeits-Flohmarkt einen schönen Vintage YSL-Anzug in dunkelanthrazit an, als mich eine Ü80-Dame freundlich anstrahlte und fragte: "Sind Sie nicht Pfarrer bei der Lutherkirche ?"
Das musste ich ehrlicherweise verneinen und habe dazu ein "Steht Ihnen aber sehr gut !"-Kompliment für den Anzug erhalten
(dass ich Laienprediger in einem Stilforum bin habe ich selbstverständlich diskret verschwiegen...)

Die Senioren von heute "Je oller, je stilvoller..." :D
 
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