Ich kann das Bedürfnis durchaus nachvollziehen, allerdings aus anderen Motiven: Wenn der moderne Arbeitstag den gesamten Tag (und damit auch die "eigentliche" Freizeit) vereinnahmt, bleibt für klassische Freizeitkleidung (ich meine nicht Sportkleidung) immer weniger Raum. Das zeigt sich ja auch an den von Bluesman gebildeten Beispielen - solche Anlässe kann ich pro Jahr an zwei Händen abzählen. Den von dir aufgezeigten Trend der Auflösung dieser strengen sartorialen Grenzen zwischen Geschäft und Freizeit würde ich durchaus begrüßen, wenn er denn nach Deutschland überschwappen würde. Wird aber wohl (zumindest in den konservativen Branchen, die leider nicht auch konservative Arbeitszeiten bieten) nicht passieren.
Hier wird ein ganz wichtiger Punkt aufgezeigt. Der Rückgang von Freizeit und deren Vermischung mit dem Arbeitsalltag ist ein weiterer Grund für die Ausbreitung und Akzeptanz von Kombinationen.
Kann hier meinen ehemaligen Chef (Bank) als Beispiel anführen, welcher eine Schublade im Büro für Kleidung reserviert hatte und ebenfalls oft Kombinationen trug. Dort waren immer mindestens ein Paar schwarze Tassel Loafer und ein weißes Einstecktuch eingelagert.
Bei Gelegenheit verstaute er die Oxfords, Krawatte und das (zur Krawatte passende) farbige Einstecktuch. Stattdessen schlüpfte er dann in die Loafer und steckte das (zum Hemd passende) weiße Einstecktuch in sein Sakko.
Daraus ergaben sich dann je nach Formalitätsgrad die drei verschiedenen Möglichkeiten:
1. Loafer mit Flanellhose und weißem Hemd
2. + Sakko und weißem Einstecktuch
3. + Krawatte, passendem Einstecktuch und Oxfords
Bringt dann je nach Lage entweder einen Komfortgewinn oder passt sogar besser in die Situation. Das 1. Outfit ist für die Büroarbeit ohne Kundenkontakt absolut ausreichend aber kann für einen spontanen Kundenbesuch sehr schnell angepasst werden. Das 2. Outfit ist für ein lockeres Mittagessen mit Geschäftskontakten im nahegelegenen Seerestaurant sogar angemessener.
Der Herr hat sich je nach Tagesplan auch mehrfach wieder umgezogen. So war der Elternsprechtag am Nachmittag, der Cocktail zwischendurch und das anschließende Abendessen mit den Kunden überhaupt kein Problem und jeweils mit passender Kleidung und maximalem Komfort möglich.
Ich kann zur schweizer Finanzbranche nichts sagen, aber meine Erfahrungen aus dem (nord)italienischen Geschäftsleben waren sehr konservativer Natur, graue und blaue Anzüge mit einfarbigen Hemden und sehr dezenten Krawatten. Formell, zurückhaltend, wenn auch mit "unseren" Accessoires und tadelloser Passform und Machart, Anti-Pitti sozusagen.
Die Finanzbranche ist ein ganz eigenes Kapitel. Das Geld dort sorgt oftmals für stilvolle und hochwertige Kleidung aber kann auch komplett in die andere Richtung ausschlagen. Nicht selten bin ich auf einfarbige Anzüge und verzweifelte Kombinationsversuche mit grün/rot/violett patinierten Schuhen inklusive passendem Gürtel gestoßen. Die Spitze von Geldüberfluss, Individualität und schlechtem Geschmack waren aber zweifelsohne die Sportwagen einiger (weniger) Geschäftspartner mit camouflage Lackierung.
Bin bisher nur privat in Mittel- und Süditalien (Rom, Florenz, Neapel, Venedig) unterwegs gewesen und dort ist mir immer die hohe Dichte an Kombinationen, Loafern und Einstecktüchern aufgefallen. Ich kann natürlich nicht eindeutig sagen, ob es sich dabei um locker gekleidete Geschäftsleute oder um Fashionblogger in der Freizeit gehandelt hat. Zeit, Ort und Kontext haben mich aber das Erstere vermuten lassen. In Mailand war ich bereits geschäftlich aber die Stadt dürfte für Norditalien vermutlich nicht repräsentativ sein.