Hemd, Anzug, keine Krawatte

Den Gedanken finde ich etwas "von gestern"....
Was wieder beweist, dass Du in modischen Kategorien denkst und nicht in ästhetischen.

Es geht hier nicht um's Befolgen von Regeln, die irgendwelche namenlosen Stilgurus in der sartorialen Antike in den Sand gemalt haben, sondern um in 100 Jahren Anwendung entstandenen Best Practices als Gruppenerkenntnis hunderttausender. Natürlich kann man solche "Regeln" getrost ignorieren, aber was man dann bekommt, ist keine neue Best Practice, sondern nur eine vorgebliche Bohemien-Protesthaltung, die in den 60ern/70ern eine gesellschaftliche Relevanz hatte, aber heute nur noch eine hohle Pose gegen das Abziehbild des eingebildeten Konservativen ist. Einfach nur sozial akzeptierter Dilettantismus.

Kurz: Das Weglassen der Krawatte zu einem Geschäftsanzug hat nichts mit Kleidung zu tun oder mit Gut-Aussehen-Wollen, sondern nur mit der schwachen Demonstration, nicht zu einer "uncoolen" Gruppe gehören zu wollen. :) Oder schlimmer, man hat sich gerade das gegriffen, was auf dem Kleiderberg oben lag und da war halt keine Krawatte dabei. ;) Das ist kein revolutionärer Geist des Aufbruchs, es ist nur feige bis langweilig.

Gerade sartoriale Kleidung wird von "denen da oben" schon lange nicht mehr hoch gehalten. Denn die da oben sind jene die Krawatte als erstes fallen lassen.
"Die da oben" ist ja auch nur eine kleinbürgerliche Vorstellung, die es in der Realität so gar nicht gibt. Die Kleinbürgerlichkeit in den Köpfen ist ein allgemein menschliches Phänomen und hat nichts mit sozialen Schichten zu tun. Deswegen ja, die Kleinbürger da oben sind auch nicht besser als die Kleinbürger da unten. :)

Den vollen und ständigen Umfang der Kultur feiner Herrenbekleidung sieht man doch nur noch in kleinen elitären Kreisen, und einer gewissen Second Hand Liebhaber Gruppe.
Genau. :cool: Ich hätte es lieber anders, flächendeckender, aber ich beschwere mich nicht. Jeder setzt im Leben andere Akzente.

als sich an einem nicht mehr zeitgemäßen Accesoir aufzuhängen....und das sage ich als jemand der sehr gerne Krawatte trägt und auch gern mal Krawatte tragen würde wenn ich es beruflich nicht müsste....
Dann tue es doch einfach, wovor hast Du Angst? :) Nicht mehr zeitgemäß? Auch das ist nur eine modische Betrachtung und keine ästhetische. Selbst wenn man den Begriff Mode ernst nimmt: Die Mode ist doch allgemein schon seit einigen Jahren tot, sie hat keine Relevanz mehr, weil sie alles umfasst. Jeder kann heute das meiste, was in den letzten 50 Jahren geschaffen wurde, tragen, ohne dass man ihm vorwerfen könnte, unmodern zu sein, egal, was er/sie trägt, für alles gibt es eine kleine geschlossene Untergruppe, in der man automatisch aufgeht. Der Begriff der Modernität weist lediglich all diesen Untergruppen immer wieder wechselnde Größenordnungen von Coolness in der zeitlichen Abfolge zu wie Scheinwerfer, die immer wieder andere im Rampenlicht stehen lassen. Vermutlich ist es mittlerweile so profitabler für die Textilindustrie.

Selbst wenn man den modischen Aspekt als wichtig betrachtet, eigentlich geht es auch in diesem Kontext nicht mehr darum, modern zu sein, sondern seine Untergruppe zu finden und authentisch darzustellen. Von gestern zu sein kann auch Avantgarde bedeuten und umgekehrt, es hat keine Bedeutung mehr.

"Das macht man nicht" ist keine gute Antwort.
Das versteht sich von selbst, aber der ästhetische Sinn einer Krawatte liegt doch klar auf der Hand und ist hier und anderswo schon hunderttausend Mal besprochen worden. Dass das nicht alle mitbekommen haben, ist ja nicht meine Schuld. ;) Und immer wieder Grundlagen in aller Breite zu besprechen, wenn wieder mal ein Anfänger die gleiche Frage stellt, mündet nun mal häufig in einer Verkürzung, die dann ohne diesen Hintergrund wie ein nicht zu hinterfragendes Axiom klingt. Das liegt in der Natur von Foren.

Wenn jemand wirklich wissen will, wie ein (Freizeit-)Anzug ohne Krawatte getragen wird, braucht er auch keine Foren. Er muss sich einfach nur Jep Gambardella anschauen. :) Wirklich freizeitliche Kleidung benötigt halt auch Freizeit, um authentisch zu wirken. Im Board-Meeting ist es daher immer etwas fremd. :)
 
Was wieder beweist, dass Du in modischen Kategorien denkst und nicht in ästhetischen.

Ich benutze das mal als Aufhänger, das bezieht sich nur sehr allgemein auf bluesman528.

Das Argument wird hier ja gerne gebraucht, aber konsequent zuende gedacht kann das nicht funktionieren. Nehmen wir an es gäbe tatsächlich eine modeunabhängige, absolute Ästhetik. Und unterstellen wir mal dass der Mensch alles in allem das schöne, ästhetische will. Dann gäbe es eine Bewegung hin zu einem ästhetischen Optimum, das vermutlich so gegen 1278 v.Chr. erreicht worden wäre (in einigen Kulturen früher, in anderen später, aber die Chinesen würden sich genauso kleiden wie die Aborigines und die Maya), und seitdem Stillstand - es kann ja nur schlechter werden.

Offenbar ist das aber nicht der Fall. Ändert sich also das was als ästhetisches Optimum empfunden wird? Und ist es dann nicht eigentlich "Mode"? Ich habe mehr als eine Anzugvariante, kleide ich mich also fast immer bewusst "unästhetisch", weil ich nicht die Optimalkombination wähle? Sind alle Künstler außer Michelangelo (oder wem auch immer) Stümper, weil sie anders arbeiten als dieser?

Ich denke nicht dass es eine absolute Ästhetik gibt. Es gibt ein paar Grundprinzipien, die grob eine Rolle spielen (Symmetrie ist schön, reine Symmetrie kann langweilig werden, es gibt komplett unsymmetrische Schönheit). Das Burj al Arab ist ästhetisch, die Akropolis auch - Gemeinsamkeiten sind doch spärlich. Man sollte sich nicht so einengen die eigene Erfahrung von Ästhetik für die einzig mögliche zu halten.

Dessen ungeachtet käme für mich Anzug ohne Krawatte kaum in Frage, ich würde mich nackt fühlen. Aber hey, that's just me. Bei Herrn Tsipras z.B. sieht das mMn authentisch und gut aus.
 
Was wieder beweist, dass Du in modischen Kategorien denkst und nicht in ästhetischen.

Es geht hier nicht um's Befolgen von Regeln, die irgendwelche namenlosen Stilgurus in der sartorialen Antike in den Sand gemalt haben, sondern um in 100 Jahren Anwendung entstandenen Best Practices als Gruppenerkenntnis hunderttausender. Natürlich kann man solche "Regeln" getrost ignorieren, aber was man dann bekommt, ist keine neue Best Practice, sondern nur eine vorgebliche Bohemien-Protesthaltung, die in den 60ern/70ern eine gesellschaftliche Relevanz hatte, aber heute nur noch eine hohle Pose gegen das Abziehbild des eingebildeten Konservativen ist. Einfach nur sozial akzeptierter Dilettantismus.

Kurz: Das Weglassen der Krawatte zu einem Geschäftsanzug hat nichts mit Kleidung zu tun oder mit Gut-Aussehen-Wollen, sondern nur mit der schwachen Demonstration, nicht zu einer "uncoolen" Gruppe gehören zu wollen. :) Oder schlimmer, man hat sich gerade das gegriffen, was auf dem Kleiderberg oben lag und da war halt keine Krawatte dabei. ;) Das ist kein revolutionärer Geist des Aufbruchs, es ist nur feige bis langweilig.
Du siehst vielleicht die Krawatte als Kleidungsstück. Andere als Accessoire.
Klassische, stilvolle und sartoriale Mode gab es schon bevor das Halstuch zum Binder wurde, und auch noch lange lange nachdem die Krawatte völlig verschwunden ist :)
Deine Empfinden für Ästhetik in allen Ehren. Wandel, Veränderung und Entwicklung in der Mode kann man nicht aufhalten, und daher sollte man datauf achten das es in die richtige Richtung läuft und nicht stehen zu bleiben.
 
Nehmen wir an es gäbe tatsächlich eine modeunabhängige, absolute Ästhetik. Und unterstellen wir mal dass der Mensch alles in allem das schöne, ästhetische will.
Darin liegt Deine erste unzulässige Vereinfachung des Modells. Der Mehrzahl der Menschen ist Ästhetik völlig schnuppe, sie finden bestenfalls einen unterbewussten Zugang zu ihr. In manchen Fällen entscheidet sich der Mensch bewusst für das Unästhetische, um sich von anderen Menschen abzugrenzen. Deswegen gibt es immer alle Schattierungen zwischen hässlich und schön nebeneinander. Dass das Schöne meist über die Zeit gewinnt, liegt daran, dass den Menschen, die das Hässliche gleichgültig vor sich hin leben, i.d.R. weniger Energie aufbringen, das öffentlich zu propagieren.

Ändert sich also das was als ästhetisches Optimum empfunden wird? Und ist es dann nicht eigentlich "Mode"? Ich habe mehr als eine Anzugvariante, kleide ich mich also fast immer bewusst "unästhetisch", weil ich nicht die Optimalkombination wähle? Sind alle Künstler außer Michelangelo (oder wem auch immer) Stümper, weil sie anders arbeiten als dieser?
Und das ist der zweite Denkfehler, weil wir uns hier ja im humanästhetischen Begriff bewegen. Gestaltende Kunst ist natürlich kulturell eingebettet, aber im Prinzip gestalterisch völlig frei, so dass ein fortschreitender Wandel und die Umdeutung, was ästhetisch ist und was nicht, immer neu definiert werden kann. Der Mensch ist aber immer der Gleiche und er steht ja buchstäblich im Zentrum der Kleidung. Was man an einem Menschen und seiner Silhouette als ästhetisch im Sinne von attraktiv empfindet, ist überkulturell erstaunlich stabil.

Um das jetzt auf das sartoriale Kleidungskonzept anzuwenden: Natürlich gibt es denkbare, auf andere Weise humanästhetische Bekleidungskonzepte neben dem westlichen Anzug und der Kombination. Interessanterweise hat sich aber bisher überregional nichts Vergleichbares ausprägen können. Die derzeitigen modischen Alternativen sind regionale Folklore und Anti-Moden als Ausdruck sozialer Gegenbewegungen mit der sartorialen Kleidung als Sinnbild für konservative Beschränktheit oder koloniale Unterdrückung, aber kein in sich geschlossenes Alternativmodell vergleichbarer Komplexität bzgl. ästhetischer Größen wie Proportion und Farbkoordinierung. Das heißt nicht, dass es das nie geben kann, aber wenn es das gibt, würde es sich ganz sicher nicht nur in der banalen Verstümmelung eines bestehenden Konzepts äußern, sondern etwas völlig Neues kreieren.

Und um wieder auf die Krawatte zu kommen: Sie ist beim Anzug der nötige farbliche und proportionale Kontrapunkt zu den Revers. Wenn man ihn weglässt, zerstört man einen guten Teil der Gesamtwirkung. Das ist keine alternative Ästhetik, sondern einfach nur Ignoranz für das zugrundeliegende Proportionsmodell. Dass das viele Menschen nicht erfassen können oder wollen, heißt ja nicht, dass es das nicht gibt.

Bei Herrn Tsipras z.B. sieht das mMn authentisch und gut aus.
Tsipras trägt diesen Antilook ja nach ausdrücklichen eigenen Angaben nicht aus ästhetischen Gründen, sondern um anzudeuten, dass er zwar als Anzugträger irgendwie dazugehört, aber auf keinen Fall Teil dieses Establishments sein möchte. Er ist damit ein archetypisches Beispiel für meine soziale Protesttheorie in der Krawattenabstinenz und ästhetisch für mich etwa auf dem Niveau des unseligen Ahmadinedschad zu sehen. Natürlich nur kleidungsbezogen betrachtet.
 
Leute, bitte lasst die Ästhetik da raus. Selbst mir als philosophisch maximal viertel- bis halbgebildetem fällt auf, dass Eure (ansonsten für mich interessante) Diskussion relativ weit ab von dem ist, was man unter Ästhetik verstehen sollte.
 
Es geht hier nicht um's Befolgen von Regeln, die irgendwelche namenlosen Stilgurus in der sartorialen Antike in den Sand gemalt haben, sondern um in 100 Jahren Anwendung entstandenen Best Practices als Gruppenerkenntnis hunderttausender. Natürlich kann man solche "Regeln" getrost ignorieren, aber was man dann bekommt, ist keine neue Best Practice, sondern nur eine vorgebliche Bohemien-Protesthaltung, die in den 60ern/70ern eine gesellschaftliche Relevanz hatte, aber heute nur noch eine hohle Pose gegen das Abziehbild des eingebildeten Konservativen ist. Einfach nur sozial akzeptierter Dilettantismus.

Es wäre dann aber recht interessant zu erfahren, wo denn genau die Grenze zwischen "100 Jahre Best Practice" und "hohler Pose" ist. Wenn nun 110 Jahre krawattenlos protestiert wird, ist dann der darauf folgende Krawattenträger der wahre Bohemien?

Klar, bei Krawatten ist eine solche Entwicklung nicht absehbar, bei anderen sartorialen Eigenheiten erscheint mir die Abgrenzung zwischen vorübergehender Modeerscheinung und "sartorialer Regel" aber gar nicht mehr so klar. Vor einiger Zeit wäre wohl auch das Ausgehen ohne Kopfbedeckung als Form der Rebellion betrachtet worden, heute stört sich - auch hier ;) - kaum noch jemand daran.

Viel interessanter als der Verweis auf die reine Tradition erscheinen mir daher (die von dir auch beiläufig erwähnten) Begründungen wie die Möglichkeit, eine zusätzliche Farbe aufzunehmen/ Kontraste zu setzen, die Knopfleiste zu verdecken und so weiter. Und damit letztlich die Gründe, die man sich bei der Etablierung der Krawatte gedacht hat, ohne sich auf eine 100-jährige Tradition zurückziehen zu können oder zu wollen.
 
Naja, bei rund 5000 Jahren weltweiter Kulturentwicklung zu sagen "in den letzten 110 Jahren hat sich im Westen was etabliert was unter absoluten Gesichtspunkten optimal und alternativlos ist" halte ich schon für arrogant. Die Römer haben sicher nicht den Fall ihrer Togen sorgfältig sortiert weil sie als Protest die Krawatte weglassen wollten oder einfach uninteressiert waren. Ich unterstelle schon dass es da welche gab die möglichst gut aussehen wollten. Ich glaube schlicht nicht dass wir nach 5000 Jahren Geschmacksverirrung endlich den Stein der Weisen gefunden haben, kann das aber natürlich auch nicht ausschließen.

Dass dann ihm bescheidenen Kontext dieser westlichen 110 Jahre eine halbwegs passende Krawatte besser aussieht als keine Krawatte ist dann wieder (von mir) unbestritten.
 
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