Hemd, Anzug, keine Krawatte

Ohne auf jeden Beitrag im Detail einzugehen, was ihr hier betreibt, ist doch ( wieder mal ) eine ideologische Diskussion, keine stilistische.

Natürlich will jeder mit seiner Kleidung auch etwas ausdrücken, eine Botschaft senden. Selbstverständlich möchte der moderne Durchschnittsmann, so er denn modisch "geschult" und durch GQ gebildet ist, cool, hip und "in" wirken.
Das, in Verbindung mit dem Hang zur Bequemlichkeit, führt dann zu den unglaublichsten, gleichwohl gesellschaftlich akzeptierten, Auswüchsen.

Und darin liegt das Hauptproblem begründet, das heute nahezu alles gesellschaftlich akzeptiert ist. Der Hang zur Individualisierung des Individuums wird als Grundrecht verstanden, Rücksicht auf gesellschaftliche, intellektuelle oder sonstige Gepflogenheiten findet unter dem Credo "Ich, Alles, Sofort" nicht mehr statt. Der Deutsche hat es einfach verlernt und eifert stattdessen vermeintlichen Vorbildern nach. Bei der Flut der Kreaturen, die fliessend vom HarzIV Empfänger zum Superstar / Daily Soap / Schauspieler usw. mutieren, kann sich jeder ausmalen, wie das ausgeht.

Ein Anzug ohne Krawatte kann gut aussehen, das setzt aber voraus, das man den Anzug, die Krawatte und den gesellschaftlichen-kulturellen Kontext dahinter verstanden hat.
Trägt man den Anzug beispielsweise statt mit Krawatte mit einem Ascot, was ich durchaus gerne tue, wird man schon wieder schräg angeschaut und in aller Regel, je nach Umfeld, als schwul, arrogant, albern oder altmodisch bezeichnet. Es fehlt der Masse schlicht an Erfahrung. Schaut man alte Fotos aus den 30er-60er Jahren an, war das durchaus gängig, ja sogar hip.

Der Anzug ist für die Masse heute Berufskleidung, in der Freizeit einen Anzug zu tragen oder ihn gar als Teil der Freizeitgarderobe zu sehen - dem ursprünglichen Refugium der Kombination - käme heute kaum noch einem in den Sinn. Wenn, dann will man auffallen und dennoch cool wirken inmitten der Masse von Basecap und Schnellschisserhosen Träger. Da muss dann schon mit Pfunden gewuchert werden.
Meiner Meinung nach hat ein Anzug ohne Krawatte, insbesondere wenn es sich um einen Businessanzug nach Farbe und Textur handelt, nichts zu suchen, aber Millionen Fliegen können sich nicht irren, zumal wenn sartoriale Größen wie Brad Pitt, Beckham und ### ( beliebige neureiche Knallcharge einsetzen ) so etwas tragen.
In der Freizeit kann das durchaus funktionieren, aber die Hochzeitsthread haben uns gelehrt, das der deutsche Michel hier regelmässig zum farblichen und ausstattungsmässigen Overkill neigt. Ein schwarzer SlimFit Anzug mit Minirevers, glänzend, zum schwarzen Seidenhemd, offen bis zur Brust und Ziegelsteinuhr in Kombination mit Lackleder-Fliegenklatschen Schnürern ist dann doch etwas zu viel, nicht nur für das geschulte Auge.
So wirken die meisten dann wie eine Karikatur Ihrer selbst. Ab einem gewissen Alter und Konfektionsgröße sollte man sich dererlei Experimente sowieso sparen.

Was nun diese Gestalten aus Griechenland betrifft. Hier ist doch spürbar, das es sich um reine Provokation handelt. Hatten wir auch mal, als unser späterer Aussenminister seine Straßenkämpfervergangenheit hinter sich liess und in Turnschuhen zur Vereidigung schlappte. Ist der Träger entsprechend kompetent, kann man darüber hinwegsehen, ich habe aber bei beiden erhebliche Zweifel.

Letztlich ist es bei diesem Thema wieder so, das es kein Schwarz und Weiß gibt, sondern nur eine endlose Aneinanderreihung von Grau. Abhängig vom Beruf, sozialem Umfeld und Alter wird die Wahrnehmung und Bewertung dieser "Kleidung" weit auseinandergehen.
Im Vorort, der Kleinstadt oder dem deutschen Mittelstand ist man mit dieser Kombi sicher die coolste Sau am Platze. Und bis Mitte 20 kann man so gerüstet sicher den Latin Lover geben. Im konservativen Umfeld und einem gewissen Alter tut man das einfach nicht, wirkt per se lächerlich oder hat schlicht nie darüber nachgedacht.

Ich weiss auch, das es Gummischuhe und kurze Hosen gibt, deswegen muss ich aber keine haben. Ich habe auch nichts gegen Leprakranke, muss es aber nicht kriegen um zu wissen, das es mir nicht gefallen würde.
 
Ersetze Bier durch Wein, dann bin ich dabei. Nach zwölf Bier wüsste ich wahrscheinlich nicht mehr, ob ich überhaupt etwas anhabe.
 
Es wäre dann aber recht interessant zu erfahren, wo denn genau die Grenze zwischen "100 Jahre Best Practice" und "hohler Pose" ist. Wenn nun 110 Jahre krawattenlos protestiert wird, ist dann der darauf folgende Krawattenträger der wahre Bohemien?
Ich habe keine Glaskugel, ich vermute aber stark, dass mit dem Aussterben der hiesigen Kleidungsfreaks die sartoriale Kleidung als solche aussterben wird. Dann laufen alle in praktischen, sich selbst desinfizierenden Einheitsoveralls herum, die man draußen und drinnen tragen kann, damit man möglichst wenig Kleidung wechseln muss. Herausgerollt aus dem Bett, direkt in das Roboterflugtaxi zum Arbeitsplatz. :) Ein Glück, dass ich das nicht mehr erleben muss.

Vor einiger Zeit wäre wohl auch das Ausgehen ohne Kopfbedeckung als Form der Rebellion betrachtet worden, heute stört sich - auch hier ;) - kaum noch jemand daran.
Das ist ja auch ein ganz anderes Thema. Der Hut war/ist urbane Outdoorbekleidung, koordinierte sich also zum heute auch weitgehend abwesenden langen Stadtmantel und nicht zum Anzug. Er ist meines Erachtens ein Opfer des technischen Fortschritts. Mit der Einführung des flächendeckenden Individualverkehrs wurde er im Auto einfach ziemlich unhandlich. Man konnte ihn nicht aufbehalten, dann musste man ihn ablegen und wieder beim Aussteigen aufnehmen, das war halt schon viel Aufwand für wenig Nutzen. Seine Rolle als Augenbeschattung im Sommer wurde von der Sonnenbrille übernommen. Und mit dem Anzug hat er ja typischerweise (Panama mal ausgenommen) gar nichts zu tun, weil man sie selten zusammen gesehen hat. Deswegen konnte man ihn wegnehmen, ohne dass beim Anzug etwas Notwendiges fehlte.

Viel interessanter als der Verweis auf die reine Tradition erscheinen mir daher (die von dir auch beiläufig erwähnten) Begründungen wie die Möglichkeit, eine zusätzliche Farbe aufzunehmen/ Kontraste zu setzen, die Knopfleiste zu verdecken und so weiter. Und damit letztlich die Gründe, die man sich bei der Etablierung der Krawatte gedacht hat, ohne sich auf eine 100-jährige Tradition zurückziehen zu können oder zu wollen.
Ich habe ja nicht auf die Tradition an sich verwiesen, sondern auf den in dieser langen Zeit von vielen Menschen in Zusammenarbeit erarbeiteten Erkenntnisgewinn mit vielen Experimenten durch wechselnde Moden. Die Tradition an sich hat ja nur nostalgischen Charakter, die Integration der Krawatte im Proportionskonzept ist ihr wirklicher Raison d'Être.
 
Ich habe keine Glaskugel, ich vermute aber stark, dass mit dem Aussterben der hiesigen Kleidungsfreaks die sartoriale Kleidung als solche aussterben wird. Dann laufen alle in praktischen, sich selbst desinfizierenden Einheitsoveralls herum, die man draußen und drinnen tragen kann, damit man möglichst wenig Kleidung wechseln muss. Herausgerollt aus dem Bett, direkt in das Roboterflugtaxi zum Arbeitsplatz. :) Ein Glück, dass ich das nicht mehr erleben muss.
Auch wenn ich langweile damit. Du sprichst der aktuellen Epoche einfach zu viel Bedeutung zu :)
Vom Einzelhandel her kann ich zum Glück sagen das die Interesse an sartorialer Kleidung gerade bei jüngeren Leuten zunimmt, obwohl die Krawatte immer mehr an Bedeutung verliert, und die meisten Firmen/Hersteller von Krawatten wohl sowieso nur noch durch beruflichen Zwang überleben können....
Daher gehe ich davon aus das der Schneider an sich eine Zukunft hat. Das gilt für Bespoke wie auch für MTM. Stilvolle Herrenbekleidung wird es also noch lange lange geben.
Ich schätze dich mal auf 35-40Jahre?! (Lässt sich durch den Schreibstil nicht einfach herauslesen).
Von daher schätze ich zwar das du weder Flugtaxi noch die Overalls ertragen musst :D jedoch schon den Fall der Binder...... Aber es wird dann dennoch unter Liebhaber ein Thema bleiben. Und ich werde mit Freuden ab und zu meine Krawatten tragen, auch wenn sie dann eine Wahrnehmung einer Schleife heute ähneln :)
 
Es kommt wirklich drauf an - auf den Träger und die Details.

Ein Kollege von mir kann das - eher schmalgeschnittner Anzug, leicht verknittert, weisses Haihemd OHNE T-Shirt-Rand oder Brusthaarzurschausstellung, schmale schwarze Monks, gegelte Haare, Typ Nida-Rümelin-Friedman.

Wenn ich das mache, sehe ich einfach nur wie ein pseudolockerer Bürohengst aus.
 
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