Ich habe den grundlegenden Wandel einer großen Kirche eng begleitet, es ist ein spannender Effekt.
Im Zuge der Diskussion ist grundsätzlich anzumerken: die Schrift ist keine Kirche und die Kirche ist keine Schrift.
Selbst wenn wir das Beispiel der Schrift nehmen würden, dann könnte man sich ja fragen: wofür die (vielen) Übersetzungen? Die Schrift scheint ja für viele so ingesamt verständlich. Dem geht allein schon eine Trivialisierung der Sprache voraus. Sprache ist ja ein höchst dynamisches Kulturgut, das nicht nur die Sprache selbst, sondern auch unsere Gedanken definiert (deswegen ist Sprachphilosophie ja auch eine der bedeutendsten Disziplinen der Philosophie).
So, wie die Schrift als Kanon konzipiert wurde, ist sie heute gar nicht mehr verständlich. Nicht einmal in sich selbst ist der biblische Kanon sprachlich verständlich, geschweige konsistent. Zurecht mag sie deswegen zum Teil verworren und widersprüchlich erscheinen. Zwischen den einzelnen Büchern der Bibel gibt es Sprachbarrieren von über 2000 Jahren und verschiedenen Sprachen - man betrachte allein den Unterschied der deutschen Sprache von vor 100 Jahren zu heute. Es ist leicht ersichtlich, dass das geschriebene Wort nicht als fixer Bezugspunkt verstanden werden kann und es deswegen auch immer neuer Übersetzungen bedarf. Eine schwierige Aufgabe, die auch leicht Fehler zulässt.
Nun ist die Kirche noch nicht einmal so greifbar, wie die Schrift. Man könnte jetzt lange überlegen, was denn die Kirche überhaupt ist - ich denke, das führt zu weit. Die Frage zielt vermutlich darauf ab, wie die Amtskirche argumentiert, inwiefern Änderungen notwendig und ggü. dem Wahrheitsanspruch früherer Aussagen gerechtfertigt sind. Ich greife jetzt mal als plakatives Beispiel das zweite Vatikanum der RKK heraus:
Jede christliche Kirche ist ja irgendwo davon überzeugt, dass ihre Entwicklung durch den Heiligen Geist getrieben ist. Eine statische Kirche wäre in diesem Sinn geradezu unbiblisch. Die Schrift dokumentiert ja eben, dass bereits kurz nach Jesu Tod grundlegende Lehränderungen vorgenommen wurden: In einer Apostelkonferenz setzt sich Paulus gegen Petrus in der Frage der Heidenmissionierung durch - das war schon früh der Bruch mit einem fundamentalen Dogma, das von Christus selbst nicht explizit aufgehoben wurde (Dogma des auserwählten Volkes Isreal, manifestiert in der Beschneidung). Wer die Funktion und Aussagen der Bibel als statisches Faktum betrachtet, der lässt keinen Raum für die Funktion des Heiligen Geistes und muss irgendwo an der Trinität zweifeln.
Am Beispiel des 2.VK ist das also sicher aus offizieller Sicht auch die treibende Kraft, um die Kirche in die Zeit neu zu verwurzeln. Dieses treibende Moment umfasste man mit dem Begriff "aggiornamento", also einem Verorten des Glaubens im Tag, im Heute (es wurde ja auch schon aufgezeigt, dass manche konservativ erscheinende Änderungen auch Modernisierungen ihrer Zeit waren, so wie neokonservative Bewertungen - völlig wertfrei - per se nicht anachronistisch sein müssen).
Also die Kirche ist ja in ihrem eigentlichen Sinn nichts Totes oder Starres, auch wenn oft so wahrgenommen, sondern ein lebendiger Organismus, der Veränderung unterworfen ist. Dass diese Veränderungen notwendig sind, lässt sich theologisch leicht ableiten: gerade weil das christliche Verständnis des Opfertodes Christi einen Wende- aber keinen Schlusspunkt markiert, müssen ihm Veränderungen folgen, sonst wäre keine Eschatologie nötig.
Das alles möchte ich nutzen, um unter die Frage Bilanz zu ziehen:
"Entweder man hat sich in der Vergangenheit geirrt"
Man kann es als Irrtum oder als historischen Fakt sehen - das ist eine Wertung, die ich nicht treffen möchte
", es gibt Spielräume in der Interpretation der Schrift"
Ja, aber zudem ist die Schrift selbst eben kein historischer Fixstern, sondern in der Historie selbst verwurzelt.
oder jemand hat eine göttliche Eingebung?"
Davon gehen Kirchen in Form des Heiligen Geistes, als Teil der Trinität, grundsätzlich aus, korrekt.
Aber alternativ: die Kirche selbst ist historisch und als Teil der Geschichte eine Veränderung, die sich nicht mit einer absoluten Vernunft, einem Dogma, einem Gott, widersprechen muss, sondern in ihrer Erfüllung dieses sogar bestätigt. Wer sich dazu vertiefen möchte, hat bei Hegel mehr als genug Gelegenheiten
p.s.: Vielleicht eine kurze Begründung, warum ich mit dem Wort 'Irrtum' vorsichtig umgehe. Wer nach Veränderung vom Vorherigen als Irrtum spricht, der nimmt den selben illusorischen Anspruch von Wahrheit für das Jetzt in Kauf, den der dem Gestern vorwirft.