Der Jammer-Faden

Steve hat ja gerade neulich erst darauf hingewiesen, was für ein unseliges Jahr 2020 ist – auch weil uns das ganze Covid-Elend für jeden weiteren Ärger oder Gram noch viel empfänglicher macht. Und dieses Jahr verkehrt sogar einen Beitrag für den Freu- in einen für den Jammerfaden, noch während man ihn schreibt:
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Das Bild ist gestern entstanden, auf dem Weg über abgelegene Chausseen im Lauenburgischen, bis an die ehemalige Grenze, wo ich ein Boot für unser Haus am See besichtigen wollte. Tatsächlich war es noch schöner als erwartet:
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Ein „Hamburger Kanu“, etliche Jahrzehnte alt und – forumstauglich – quasi „fully canvassed“, also mit einer imprägnierten und lackierten Leinwand über dem hölzernen Rumpf. Bei vielen historischen Booten wurde die längst gegen einen Glasfaser-Mantel getauscht, der nicht nur unauthentisch ist, sondern als konstruktiv heikel gilt. Hier ist die textile Hülle, sorgsam restauriert, noch erhalten: dunkelblauer Leinen-Baumwoll-Mix für den Sommer.
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Ganz glücklich über den Fund, bin ich dann langsam über die Dörfer meiner Kindheit zurückgefahren, hab’ meiner Frau zu Haus in Winterhude von dem Oldtimer vorgeschwärmt – bis abends der schlimme Anruf kam: Nur wenige hundert Meter von uns entfernt, stand die alte Holzwerft in Flammen, in der auch mein Boot, die „Quinquaginta“ lag.
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Zu retten war nichts mehr, in unserem Bootshaus wie im ebenfalls niedergebrannten Nachbarbetrieb sind alle Boote, insgesamt mehr als 400, völlig vernichtet worden, viele davon 70, 90, 100 Jahre alt. Nicht nur materiell ein Kulturverlust; das Herumpütschern an den Kanus, die abendliche Runde über die Alster, das anschließende Bier unter den riesigen Pyramidenpappeln am Ufer ist für viele hier im Viertel traditionell ein wesentlicher Teil ihrer Lebensfreude.
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Ich habe mein schönes Boot, ein Geschenk meiner Frau, sehr gemocht. Es gehörte nicht zu den historischen oder kunsthandwerklichen Schätzen, wäre recht ähnlich wiederzubeschaffen. Dass man sein Herz nicht an Dinge hängen soll und es dann doch immer wieder tut, ist hier nicht das Problem. Es ist vielmehr der Ort, an dem unser Herz hing, das große Idyll, das wir gestern Nacht verloren haben. Bitte seht mir mein Pathos nach; es gibt in diesem Jahr weit beklagenswertere Verluste. Aber manchem meiner Nachbarn, die in den Bootshäusern aufgewachsen sind und dort grandiose Familienerbstücke behütet haben, hat der Brand das Herz gebrochen.
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Die Trümmerwüste möchte ich bald vergessen, denke lieber an das hübsche Sonnenlicht an Sommernachmittagen in meiner Halle zurück. Das alte Kanu aus aus dem Lauenburgischen werde ich wohl kaufen, aber nicht an die Mecklenburger Seenplatte verlegen, sondern nach Hamburg holen, schon um die Veteranenzahl hier wieder etwas zu erhöhen. Es ist ziemlich groß, echt schwer und viel zu schade für das Gewühl und Geschubse auf den Alsterkanälen. Aber gegen echten Jammer hat Vernunft ja keine Chance. Und ich glaube, das Boot könnte mich … trösten. Am Montag erfahre ich, ob es einen passenden Liegeplatz gibt; mögt Ihr mir bitte die Daumen drücken?
 
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