Der Artikel Sammelthread

Das Ende der Sparkassenfilialleiter-Krawatte, gerne genommen ein Weihnachtsgeschenk der Ehefrau vom Grabbeltisch des Winterschlussverkaufs anno 1993, kann man auch als sartorialer Feingeist sicherlich als Erlösung für die Menschheit betrachten. :D

Was ich schmerzlich vermisse, ist der gesellschaftliche Mut, Kleidung qualitativ wieder von der Spitze zu denken, statt immer vom Bodensatz und kleinsten gemeinsamen Nenner her. Dann wären die Argumente auch andere. Dass irgendjemand den schäbigen, mit der gequälten Leichenbittermiene des Galeerensklaven getragene 10€-Standardstrick des Sparkassenangestellten als distanzierende Gewinnermentalität gegenüber den Kunden interpretieren könnte, ist ja schon reichlich weit hergeholt. Da bin ich bei Dienstreisen regelmäßig von deutlich besser gekleideten Chauffeuren abgeholt worden.
 
Übrigens, passend zum krawattenlosen Banker, d.h. zum Thema fortschreitende Informalisierung ein interessanter Aufsatz von DieWorkwear: http://dieworkwear.com/post/175555470874/the-suit-died-but-for-good-reasons

Demnach hänge diese Entwicklung mit den immer liberaleren Gesellschaften mit mehr Gleichheit und weniger Hierarchien zusammen.
Auf jeden Fall eine interessante These. Allerdings mag ich mir nicht vorstellen, wie der Formalitätsgrad noch weiter gesenkt werden kann? T-Shirts sind im Arbeitsalltag bei vielen die Regel, kurze Hosen werden im Sommer auch immer mehr gesehen, teilweise garniert mit offenem Schuhwerk. An einen Gegentrend, wie von Bluesman erhofft, vermag ich leider kaum zu glauben. Die Individualisierung wird weiter voranschreiten und damit wohl auch eine Nivellierung des Formalitätsgrades nach unten.
 
Ist meiner bescheidenen Meinung nach eher ein Ausdruck des krampfhaften Bemühens, bestehende Hierarchien und wachsende Ungleichheit zu kaschieren.
Es spricht viel für diese Hypothese. Josef Käser benennt sich in Joe Kaeser um, reißt sich die Krawatte vom Hals und ist plötzlich cool, kreativ und nahbar gleichzeitig. Nicht. Es ist nur das scheinbare Niederreißen von Hierarchiegrenzen, denn die Hierarchien bestehen natürlich weiter. Ein Steve Jobs hat mal jemanden gefeuert, weil er ihn im Fahrstuhl nicht mit einem Gruß gewürdigt hat. Exakt wie ein Gutsbesitzer und sein verarmter Pächter mit gebeugter Haltung und der Hand an der Mütze im 19. Jahrhundert, nur dass Jobs Rollkragenpulli und Jeans trug.

Ich glaube, dass es immer eine akzeptierte und insgeheim bewunderte Nische für Lebensverfeinerung geben wird. Man muss nur Kleidung in den Köpfen vom Berufsleben und von existierenden und erdachten sozialen Hierarchien trennen. Nischen ist natürlich zueigen, dass sie nur von Minderheiten bevölkert werden. Aber dort war sartoriale Kleidung, wie wir sie verstehen, schon immer. Normcore in den 1960er Jahren war ein schlimmer Schlips am ehemals weißen Hemd zum mausgrauen Vertreteranzug mit Pappeinlagen. Schön war das auch nicht. Nur "korrekt", irgendwie.
 
Die Individualisierung wird weiter voranschreiten und damit wohl auch eine Nivellierung des Formalitätsgrades nach unten.
Jede Mode ist keine Individualisierung, sondern eine Konformisierung. Und da liegt halt auch die Chance. Ein Mann in einem ordentlichen Anzug mit guter Passform, der auch noch unverschämterweise Spaß daran hat, ist heute der Punk. Das ist doch eine ebenso anarchisch erheiternde wie beruhigende Vorstellung für die Zukunft. Wenn er dann noch Freude an Wein hat, an Kunst und anderen schönen Dingen und sich nicht nur obsessiv in für den großen Rest der Bevölkerung abstruse Kleidungsdetails hineinsteigert, kann er glatt ein Rollenmodell werden. Auch das sind aber immer Minderheiten.
 
Oben