Ich kann die grundsätzliche Logik dieser Argumentation nachvollziehen, aber sehe einen entscheidenden Fehler. Du gehst nämlich davon aus, dass alle Arten von "Anderssein" gesellschaftlich gleich behandelt werden.
Nicht alle Arten von Anderssein werden gleich behandelt, richtig. Ist ja hier auch nicht anders. Der Boss-Anzugträger kommt wahrscheinlich am schlechtesten weg. Sowohl hier, als auch bei Jogginghosenträgern. Als Schwarzer im Görlitzer Park, Berlin Kreuzberg, in Joggingkleidung hingegen hat man z.B. gute Aussichten auf eine körperliche Durchsuchung. Ein Anwalt im Anzug macht auf die meißten Mandanten mehr (besseren) Eindruck, als einer in zerrissenen Jeans. usw.. Letztlich ist das ja auch der Sinn von Kleidung (bewusst oder unbewusst genutzt), ein Signal nach außen zu senden.
Aber wenn Du es Dir genau anschaust, existieren Orte, an denen man mit Tattoos, kurzen Hosen und mittlerweile selbst Punk Bekleidung abgelehnt wird so gut wie überhaupt nicht. Bei klassischer Kleidung kann man das hingegen nicht sagen.
Das liegt schlicht daran, dass mehr oder weniger alle Subkulturen sich in dieser Hinsicht nur über die Ablehnung des Bürgerlichen definieren, während klassische Bekleidung das natürlich nicht tut.
Bürgerliche Kleidung ist wohl heute überwiegend Funktionskleidung oder bequeme (nachlässige) Kleidung, besonders in Deutschland. Das, was man früher Bürgertum nannte ist zu Mindest finanziell sehr viel häufiger als vor 40 Jahren. Bildungsbürgertum scheint mir fast ausgestorben zu sein. Trotzdem habe ich selbst nicht das Gefühl ausgegrenzt zu werden, wenn ich Anzug trage, auch nicht in Kreuzberg.
Ich habe den Begriff der Konformität nicht nur auf Anzüge oder Anzugträger bezogen, sondern auf Deutsche und dabei nicht nur auf den männlichen Teil. Wenn man in einer beliebigen Innenstadt spazieren geht, wird man deswegen auf unzählige Leute treffen, die sich zwar für individuell angezogen halten, aber im Kern immer aneinander angepasst das Gleiche tragen, heute Normcore genannt.
Ist das nicht für Außenstehende einer Gruppe immer so, dass man denkt die sind angepasst? Für einen Nicht-Anzugträger ist ein Anzug ein Anzug, ob zu groß oder zu klein, schwarz oder dunkelblau, alles das gleiche. In unserer kleinen Nische, wird das genauer gesehen, trotzdem sind wir im Kern, auch, wenn wir noch so gerne als Individuen gesehen werden wollen, angepasst. Wer weiß, wie das bei Jogginghosen ist. Da gibt es bestimmt auch feine Unterschiede, die ich nicht kenne. Ich finde das nicht typisch deutsch, sonder typisch menschlich.
Tattoo-Träger sind dabei wie andere Subkulturen etwa gleich selten wie Anzugträger anzutreffen, die selektive Wahrnehmung mag dort individuell höher sein.
Ich habe den Eindruck, dass man heute kaum noch untätowierte Menschen trifft, egal welcher Herkunft und Bildungsschicht. Selbst Moslems und Katholiken sieht man heute tätowiert, obwohl große Sünde (z.B.:
https://www.jw.org/de/publikationen/bibel/bi12/bibelbuecher/3-mose/19/#v3019028 ). Da mag ich mich irren, aber anecken tut man mit Tattoos und Piercings heute scheinbar kaum.
Dass Anzugträger innerhalb ihrer Peer Group auffällig distanziert ebenfalls nur einen korrekten Dresscode erfüllen wollen, statt sich in der Kleidungsform kreativ auszuleben, ist eine Folge dieser allgemeineren gesellschaftlichen Tendenz in Deutschland im Gegensatz z.B. zu Italien oder GB. Das war die Aussage des zitierten Artikels, der ich - wieder aus eigener Erfahrung - in vollem Umfang zustimme. Das hat nichts damit zu tun, dass sich in jedem Land dieser Welt die schlecht oder nachlässig gekleideten Menschen in der Mehrheit befinden, das ist sicher richtig, schon wegen wirtschaftlicher Gegebenheiten. Der Unterschied zu Deutschland liegt darin, dass ein gut gekleideter Auftritt und das eigene Interesse daran dort nicht allgemein negativ konnotiert sind und misstrauisch beäugt werden.
Das ist nicht nur bei Anzugträgern so. Auch bei "Freizeitkleidungsträgern" (die Mehrheit weltweit) will sich der geringste Teil kreativ ausleben. Kenneth Bone, der seine Sachen von seiner Frau rausgelegt bekommt, könnte auch Deutscher oder Italiener sein (wenn er nicht ganz so fett wäre, aber wir arbeiten dran):
http://www.nytimes.com/2016/10/11/fashion/ken-bone-sweater-presidential-debate-izod.html?_r=0
Wirtschaftliche Gründe halte ich übrigens für vergleichweise vernachlässigbar, denn auch für Freizeitkleidung kann man und wird viel Geld ausgegeben.
Ich sehe nicht, dass man bei uns negativ wahrgenommen wird, wenn man versucht sich gut zu kleiden. Ist mir jedenfalls in den letzten Jahren nicht passiert. Manchmal muss man Barrieren überwinden. Das gilt aber in allen gruppenübergreifenden Kontakten. Ein Hippie und ein Biker haben sicher auch Hürden miteinander zu überwinden, egal in welchem Land. Was ich beobachten kann ist ein leichtes Eitelkeitsgefälle von Süden nach Norden (Ausnahme England, die haben ein starkes Standesbewusstsein). Betrifft aber nicht nicht nur Anzüge oder ähnliches.
In den urbanen Zentren Italiens, Spaniens, GB und Portugals (da Du Portugal kennst -> Porto, Lissabon, Coimbra) ist - aus unterschiedlichen Gründen - eine präsente und geachtete Minorität an gut gekleideten Menschen beobachten, die ich in Deutschland so nicht erkennen kann. Auch fehlt dort völlig die Tendenz, gut gekleidete Menschen außerhalb ihrer Peer Group demonstrativ/abschätzig zu bestaunen, was ich für eine typische Spießbürger-Eigenschaft halte.
Nun, mir ist das nicht aufgefallen. Ich kenne auch hier vergleichsweise viele gut gekleidete Menschen.
Die USA sind hier sicher im Schnitt noch übler gekleidet, aber letzteres ist dort nach meiner Erfahrung kein Thema. Da gilt (außerhalb des Silicon Valleys
) weitgehend leben und leben lassen, was ich nach wie vor für ein erstebenswertes Lebensmodell halte.
Auch in den USA gibt es einen sehr elaborierten Kleidungscode in unterschiedlichen Kreisen, gerade in der Oberschicht im Nordosten, aber das merkt man auch nur, wenn man sich dafür interessiert.
Berlin ist übrigens meiner Meinung nach nicht bunt, sondern nur unoriginell abgefuckt und darauf eingebildet (Berliner Mitforisten sind natürlich von dieser Einschätzung ausgenommen). "Arm, aber sexy."
Wir haben heute in Berlin so viele Touristen, Studenten, Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Glücksritter und Künstler aus aller Herren Länder, dass Du bei den "Berlinern", die im Straßenbild so auffallen kaum von Deutschen sprechen kannst.