Die Diskussion taucht ja immer wieder mal auf. In meinen Augen funktioniert Kleidung nicht ohne einen Kontext. Das heisst für mich muss meine Kleidung jeweils auch für die Situation stimmen, in die ich mich begebe.
Im Büro ist das eine Kombination aus Odd-Sakko und -Hose (bzw. Anzug). Das funktioniert auch für die anschliessende Freizeitbeschäftigung. Aber wenn es nur um Freizeitbeschäftigung geht, dann kann das auch unpassend sein. Für den Besuch im Freibad wäre ich dann verkleidet. Der Kontext ist wichtig.
Im HO kommt hinzu, dass es niemand anders sieht: Wieso sich dafür gross Mühe machen und Kleidung wählen, die zerknittert und wieder gebügelt werden muss? Aufwand und Ertrag stimmen nicht.
Der Fehler liegt eigentlich schon in der Fokussierung auf die Kalkulation Aufwand vs. Ertrag. Man hat ein Konto "Öffentliches Standing" und darauf zahlt man u.a. mit Kleidung ein, um einen Status bei anderen zu erreichen. Das habe ich noch nie verstanden, denn da ist natürlich oberflächlich was dran, aber es ist nur die halbe Rechnung aus der falschen passiven Perspektive, nämlich der der anderen. Ich würde sogar behaupten, dass es einem grundsätzlich an Authentizität mangelt, wenn man sich nur für andere anzieht. Diese werden auf einer unterbewussten Ebene zuverlässig den Unterschied merken.
Mit seiner Kleidungswahl gibt man sich eine öffentliche Identität, aber qua eigener bewusster Entscheidung und nicht durch die Entscheidung anderer. Man strahlt damit seine Selbstwahrnehmung und Selbstachtung aus. Kleidung macht was mit einem auf einer unterbewussten Ebene, man agiert in unterschiedlicher Kleidung unbewusst auf unterschiedliche Weise, dazu hat es schon interessante Studien gegeben. Und das wirkt natürlich auch auf andere, selbst wenn man mit ihnen nur ohne Bild telefoniert, in Videokonferenzen ist das noch mal etwas anderes. Ich denke, dass es selbst auf das Verfassen geschäftlicher Korrespondenz inkl. Emails einen unterbewussten Einfluss hat.
Es gibt natürlich Kleidung, die einer Tätigkeit in ihr nicht angemessen ist. Ich springe also nicht im Anzug mit Krawatte in einen Pool, deswegen verzichte ich auch auf einen, wenn ich nur am Poolrand heumlümmele oder am Strand spazieren gehe.
Ähnliches gilt für Sport, Bergwanderungen etc. Ich werde auch keine Dachdeckerarbeiten im Anzug mit Krawatte erledigen oder sonstige körperliche Arbeiten. Aber ansonsten kann ich sartoriale Kleidung abgesehen von spezifischer Gesellschaftskleidung immer überall im urbanen Umfeld tragen, gerade auch in den vielfältigen informellen Abstufungen. Auf dem Land mag das schwieriger sein, weil dort landwirtschaftliche Implikationen das allgemeine Formalitätsniveau drücken und damit Unangepasstheit individuell mehr Aufwand erfordert, aber 70% aller Deutschen leben im urbanen Raum, deswegen kann man da auch abstrahieren. Auch vom schnöden Aufwand her ist sartoriale Kleidung keine weitere Zumutung, man trägt ein Hemd, eine Jacke, eine Hose und ein paar Schuhe, anders sind die Kategorien bei "Freizeitkleidung" eben auch nicht.
Aber von all dem ganz abgesehen gibt es beim Homeoffice noch eine ganz andere Komponente, die Richard Sennett in seinem Werk "The Fall of Public Man" ausufernd beschreibt und die ich für viel bedeutsamer halte als irgendwelche willkürlich definierten Kontexte: der Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Leben. Sennett kannte, als er das schrieb, noch kein Internet, von daher ging er von einer strikten Trennung aus. Die ist natürlich gerade bei Homeoffice ultimativ nicht mehr gegeben, also muss man dort gerade für sich selbst zu einer Mischform finden, da man einen Teil seines Privaten für die Öffentlichkeit freigibt, gerade auch in Videokonferenzen, es aber trotzdem für seine eigene geistige Gesundheit noch für sich als geschützten privaten Raum kenntlich machen möchte.
Das ist bislang unbekanntes Terrain, das wir da betreten. Ich kann da nur von mir ausgehen: Pyjamas, Jogginghosen, verwaschene T-Shirts sind von der Außendarstellung her eine Zumutung für andere, die sollte man auch nicht freiwillig zeigen. Das gilt übrigens auch für Bildhintergründe, der Berg getragener Schmutzwäsche hat in der Videokonferenz auch nichts zu suchen, das ist genau der Grad an Privatheit, den man anderen nicht aufdrücken darf. Aber nichts spricht in den eigenen vier Wänden (bei Abwesenheit von Hauspersonal, was für die meisten hier vermutlich zutreffen wird, da wäre der private Raum eben nicht mehr wirklich privat) gegen ein Hemd (oder ein Poloshirt), eine Chino (oder eine Jeans) und man erreicht damit für sich genau das Beibehalten einer privaten Atmosphäre und einer vernünftigen Außendarstellung des eigenen Arbeitens aus dem privaten Raum heraus.
Eine Ausnahme sind offizielle Termine. Säße ich z.B. bei der Ministerpräsidentenkonferenz, wäre die Bedeutung der privaten Atmosphäre für mich und die Gesprächspartner zweitrangig, deswegen ist dann ein Anzug mit Krawatte und EST auch völlig angemessen. Solche Termine gibt es im Konzernleben natürlich auch, aber sie sind zumindest für mich eher selten.