Ich finde, Du machst Dir einfach zu viele Gedanken. Arbeit auf dem Bau ist halt im Anzug mit Krawatte nicht möglich, weil es nun mal spezielle Arbeitskleidung erfordert. Aber wieso glaubstDu, dass ein preisgünstiges einen Anzug verbietet oder ein teures Restaurant einen solchen erlaubt? Ich kann verraten, dass der Kleidungsstandard im Sternerestaurant durchaus den eines durchschnittlichen Bürotages unterschreiten kann (unglücklicherweise möchte ich hinzufügen
).
Ich vermute, Du richtest Dich dabei eher nach der Erwartungshaltung anderer und nicht nachdem, was grundsätzlich machbar und angemessen ist und was nicht. Damit eine bestimmte Kleidung in einer bestimmten urbanen Umgebung angemessen ist, muss es nicht notwendigerweise jeder tragen.
Dazu gibt es sartoriale Kleidung ja in den verschiedensten Formalitätsabstufungen. Ein Donegal-Tweed-Anzug, wie ich ihn neulich trug (s. WTIH), ist für manche Büroanwendungen zu leger und passt ganz sicher nicht in eine gehobene Bar am Abend. Dafür ist er für viele andere Deiner Beispiele vollkommen okay, würde sogar zu einem Waldspaziergang ohne weiteres passen. In jedem Fall reden wir aber über sartoriale Kleidung oder sogar Anzug und Krawatte. Formalitätsabstufungen, wie Du sie beschreibst, sind eine Nebenkategorie, aber keine wirklich entscheidende pro oder contra sartoriale Kleidung.
Wie ich oben ausführte, ist das Homeoffice ein Sonderbereich an der Schnittstelle zwischen öffentlichem und privatem Leben. Ich trage im Homeoffice auch keinen Anzug mit Krawatte, einfach weil ich das gewöhnlich zuhause in meinen privaten vier Wänden auch nicht tue. Den trage ich aber mit Freude, sobald ich das Haus verlasse. Warum? Weil ich es kann. Weil es gut aussieht. Weil ich Freude daran habe. Weil es in einem urbanen Umfeld niemals deplatziert aussehen kann. Weil es immer noch gesellschaftlich übliche Kleidung ist. Weil sich daran niemand stört (warum auch?). Also warum nicht?
Die Frage, die Tittapá schon indirekt angerissen hat, ist natürlich auch: Warum muss man sich neuerdings in einem Forum von Enthusiasten sartorialer Kleidung für das Tragen sartorialer Kleidung entschuldigen?
Eigentlich sollte man doch erwarten, dass man aktiv nach Gelegenheiten und Anwendungsvorschlägen sucht, wie man solche Kleidung möglichst umfassend ins Leben einbringen kann, und nicht aufwändig beschreibt, wo man das überall zu verhindern sucht. So war auch der Forumsfokus über den Großteil der letzten 12 Jahre.
Wer definiert das denn?
Ich finde es völlig in Ordnung, wenn jemand einen Kleidungsstil eines niedrigeren Formalitätsgrads bewusst mehr mag und deshalb mehr anwendet. Das ist selbstbestimmtes Leben, das aber eben auch umgekehrt gilt. Ich habe schon mitbekommen, dass Du Dich mit Anzug und Krawatte diffus unwohl fühlst, weil Du glaubst, das bist nicht Du, es sei denn, eine künstlich von Dir aufgesetzte Situation verbunden mit einem Setup dafür "erlaubter" Kleidung (= Kontext) ermöglicht es Dir. Das finde ich absolut okay, ist aber nur Dein ureigener Weg.
Nehmen wir doch mal unser geschätztes Altmitglied Grimod. Der hat schon vor 10 Jahren hier im Forum kolportiert, dass er üblicherweise in sartorialer Kleidung unterwegs ist. Es gab Fotos von ihm im Solaro-Anzug beim Müllrausbringen (gut, er wird danach noch was anderes darin gemacht haben).
Da hat ihm keiner autistisches Cosplay unterstellt, er war und ist im Gegenteil eines der großen Vorbilder dieses Forums. Der Unterschied zu den meisten von uns ist: Er ist offenbar finanziell unabhängig.
Was ist seitdem passiert? Ist das so ein Mittelschicht-Ding, die Angst, etwas gesellschaftlich-sozial verkehrt zu machen, nicht dazu zu gehören, und der unbedingte Wille, mit dem Strom zu schwimmen?