Ich glaube, das ist eine romantische Verklärung des Umgangs von Menschen in der Gesellschaft miteinander.
Ich trenne implizit zwischen Manieren und Benehmen. Letzteres ist das, was man als Außenstehender wahrnimmt, ersteres ist das Produkt jener inneren Haltung, die das wahrgenommene Benehmen ausprägt.
"Umgangsformen" geben mir eine neutrale, wertbefreite und akzeptierte Art, mit diesen Menschen umzugehen, ohne ihnen auf die Füße zu treten und ohne ständig auf die Füße getreten zu werden. Sie sind ein Code, der das Leben in Gesellschaft in Summe für alle Beteiligten angenehm und erträglich macht
Völlig richtig. Aber man hat heute auch die freie Entscheidung, diese Umgangsformen zu ignorieren und seinen Mitmenschen frech und ungestraft auf den Geist zu gehen. Häufig ist das sogar unter an sich höflichen Menschen ein erfolgreiches Konzept zur mehr oder weniger brutalen Durchsetzung eigener Ziele. Wenn man sich konsequent dazu entschließt, ein höflicher Mensch zu sein, der z.B. anderen Leuten nicht die fäkalienbesudelte Hand zum Gruße reicht, die öffentliche Toilette für den nächsten in einen zumutbaren Zustand versetzt, sich in der Schlange nicht vordrängelt, einem gehetzten Menschen das Taxi überlässt usw., ist das kein einstudiertes Verhalten mehr, sondern eine bewusste Handlung gegen die ungestrafte Normalität des alltäglichen Gegenteils. Tugenden sind, wie Du richtig sagst, im Großen wie im Kleinen nicht immer leicht zu leben. Es gibt aber die großen Tugenden nicht ohne die kleinen. Wenn man sie durchgängig aus Bequemlichkeit, Eigennutz oder Soziopathie ignoriert, ändert man auch sich selbst auf eine gar nicht so subtile Weise, die auf allen Ebenen sichtbar wird.
Möglicherweise, ja. Ich glaube aber, dass man unseren Vorfahren damit Unrecht tut. Aus der Perspektive der Spätgeborenen heraus ist es doch gar nicht möglich, im Nachhinein die wahre Gesinnung der Menschen zu beurteilen, die uns ja immerhin eine offene, sichere, wohlhabende und freie Welt hinterlassen haben. So schlecht können sie nicht gewesen sein, die Altvorderen.
Aber auch nicht so gut.
Statistisch betrachtet kann man davon ausgehen, dass sie genau wie wir waren, nicht besser, nicht schlechter, vielleicht im Schnitt ein bisschen ungebildeter und ein bisschen weniger weltoffen. Sie wirkten nur so, als wären sie viel höflicher, durch einstudierte Routinen. Natürlich mögen das manche auch sehr ernst gemeint haben, das kann man ja in der Beobachtung nicht immer trennen. Aber daraus, dass die Menschen in ihren Anlagen über die Jahrhunderte nicht besser und nicht schlechter werden, kann man schon ableiten, dass alle Rüpel von heute auch damals in gleichen Anteilen, aber eher innerlicher ausgeprägt vorhanden waren.
Ich halte eine eigene Entscheidung für oder gegen einen gewissen Umgang sowieso nicht für 100%ig trennbar von Erziehung und sozialen Normen.
Das ist sicher richtig. Das eigene Wertesystem lebt von Vorbildern und die eigenen Eltern sind da sicher nicht an letzter Stelle.