Ich finde das kann man nicht einfach so trennen. Fühle ich mich nach Gordon Gekko, wenn ich in einem Standard Restaurant essen gehe? Trage ich deshalb Nadelstreifen Anzüge wenn alle anderen mit Jeans dasitzen, und das Ambiente ebenfalls eher Marke "Deutsche Wirtschaft" ist? Mag sein dass du dich fühlst wie beim Business Dinner, aber das Ambiente und die Personen die da sind lassen mich mit nem Nadelstreifen out of place fühlen, weils dem Anlass einfach nicht entspricht. Egal wie gerne ich ihn tragen oder wie sehr ich den Look mag. Das dann mit "du ziehst also nur an was die anderen von Dir Erwarten" zu simplifizieren wird dem komplexen Thema des sozialen Settings meiner Meinung nach nicht gerecht.
Ich glaube, wir overthinken
hier ziemlich viel. In der Zeit, als Nadelstreifenanzüge erfunden wurden, war das ganz sicher kein großes Thema. Selbst vermögende Leute hatten keine riesigen Garderoben, da wurde auch der Nadelstreifen getragen, wenn er dran war und gepasst hat er in der Stadt immer, solange keine Gesellschaftskleidung erwünscht war. Die großen Regelwerke, wer wann was tragen darf oder nicht, wurden auf Nummer Sicher geschrieben, damit Aufsteiger im gesellschaftlichen Umgang nicht als Aufsteiger negativ auffielen.
Das ist heute alles relativ obsolet. Trotzdem halten sich diese Regeln standhaft und es kommen noch aus individuellen Kino-Sekundärerfahrungen immer neue hinzu. „No brown after six”, „Grün und blau schmückt die Sau“, „kein Nadelstreifen im Standard-Restaurant außer für Gordon Gekko“.
Am Ende entscheidet eigentlich nur eins: Sieht man authentisch aus? Passt die Kleidung zu einem? Trägt man sie und bewegt man sich in ihr selbstverständlich? Ist sie den Temperaturen angemessen? Ist sie kombinatorisch gut ausgewählt? Wenn das alles passt und man dabei gut gelaunt ist, ist man selber der Kontext und so soll es sein.
Du machst oben übrigens implizit noch einen ganz anderen Themenbereich auf, der über Kleidungstrageregeln hinausgeht und leider für viele Männer viel wichtiger ist und hier auch traditionell viel diskutiert wurde, der der diffusen „sozialen Angemessenheit“. Ich darf nicht aus meiner Umgebung herausstechen. Wenn alle Jeans tragen (obwohl es gar keinen ausgeschriebenen Dresscode gibt), muss ich auch Jeans tragen. Die Kleidung darf nicht teurer aussehen als das Ambiente. Oder das Essen auf dem Teller. Oder das Auto, das man fährt. Oder die Kleidung des Chefs.
Ich finde, es kostet viel unnötige Lebenszeit, sich darüber Gedanken zu machen, wenn man doch ohnehin nicht verhehlen kann, dass man Kleidungsenthusiast ist. Häufig passt es ohnehin automatisch durch eine kongruente Lebensführung auf verschiedenen Ebenen und Interessen. Wenn man regelmäßig 4500,- für Anzüge ausgibt, 600,- für Schuhe, variierende vierstellige Beträge für Uhren nebst deren Wartung, Accessoires, Hektoliter von internationalen Weinspezialitäten etc.pp. ist es nicht so ganz unwahrscheinlich, dass man selten in einem Restaurant Marke „Deutsche Wirtschaft“ landet, weil man ganz wertfrei einfach lieber woanders ist und isst, wenn man die Wahl hat. Und da passt dann auch für Dich wieder ein Anzug, vielleicht auch ein informellerer, wie ich ihn ja speziell in der kühlen Jahreszeit häufiger trage, gut ins Umgebungsdesign, ohne dass man sich irgendwie verbiegen musste.