Erstes Maßrojekt, Bitte um Empfehlungen

Ersteres finde ich genauso, dann betont aber die neapolitanische Variante die Schulter, habe nicht den Eindruck, das ist bei JeepDriver nötig oder auch nur ratsam.
 
Ich finde es wegen des Aussehens. Ich muss aber zugeben, dass ich grundsätzlich eine gewisse Schwäche für diese Art von Schulter habe.
 
Wieso? Drückt man seine Persönlichkeit am besten aus, indem man auch beim Eiersuchen oder Bocciaspielen Anzug trägt?
Gut, wenn das Deine üblichen Beschäftigungen sind, verstehe ich natürlich, dass Du es nicht so mit Anzugtragen, speziell in der Freizeit, hast, das war mir bis dato so nicht klar.

Nein, ein zu formeller Anzug tendiert zu weniger Tragezeit, da er eben tendenziell in weniger Situationen passt, in denen die meisten Menschen Anzug tragen. Einen anthrazitgrauen Anzug würde ich auch nicht in der Freizeit tragen, weder zu den o.g. Aktivitäten noch zu üblichen Gelegenheiten im urbanen Umfeld. Ein solcher Anzug ist eher als neutrale Uniform gedacht und nicht um sich damit in eine Bar zu setzen oder durch eine mehr oder weniger hübsche Innenstadt zu flanieren.

Wenn man selten Anzug trägt, muss man die Investition nicht tätigen und seine Zeit nicht mit so viel (notwendiger) Vorbereitung verbringen. Dafür sind okaye, industriell gefertigte Anzüge erfunden worden. Bespoke-Anzüge sind nach Savile Row Lesart für Crooks, Cranks and Cripples. Die Forumsgemeinde würde ich da mal unter Cranks, also freundlicher ausgedrückt Enthusiasten, subsummieren.

Viel wichtiger ist aber, dass Anzüge nicht nur passen müssen, sie müssen auch selbstverständlich getragen werden, um ihre Wirkung zu entfalten, nur dann sind sie natürlicher Bestandteil des Trägers. Menschen, die sich hin und wieder mal als Geschäftsmann verkleiden, sieht man das an. Man muss nicht immer und überall sartoriale Kleidung tragen, aber es muss ein häufiger Bestandteil des eigenen Lebens sein, damit es den souveränen Ausdruck für andere hat, den Menschen, die einen Anzug ausschließlich für einen externalisierten Zweck anziehen, automatisch erwarten, ohne ihn authentisch auf die Straße bringen zu können. Einem Enthusiasten wird das nicht schwer fallen, weil er sich ohnehin aus eigenem Antrieb immer wieder gerne darin sieht und die entsprechenden Situationen dafür selber schafft, statt sie angestrengt zu vermeiden. Und genau dafür lohnt sich dieser Aufwand dann auch. Wie ich @JeepDriv3r verstanden habe, ist das aber grundsätzlich auch die Intention, wenn auch vielleicht nicht mit diesem beruflich orientierten Erstlingswerk.
 
Das ist der "Lapel Gorge" richtig?
Im Englischen, ja, der Übergang vom Kragen zum Revers mit dem Einschnitt.

Wo würdest Du die ansetzen?
Ich muss sagen im Bild nachfolgend gefällt mir die niedrigere Variante besser als die hohe:
https://cdn.shopify.com/s/files/1/1249/6777/files/compareeeee_2048x2048.jpg?v=1550992634
Ist eine individuelle Sache, da gibt es kein richtig oder falsch. Ich würde Dir bei Deiner Figur aber auch eher zu der etwas niedrigeren Variante oben raten. Niedriger würde ich aber nicht gehen, das wirkt dann gerne etwas traurig und nach späten 1970ern, frühen 1980ern, wo das etwas exzessiv betrieben wurde. Alles andere, Brusttasche, Schließknopf, Taillenposition, untere Taschen und Sakkolänge müssen sich dann daran aber auch orientieren, damit alles in Balance zueinander steht. Das würde ich dem Schneider überlassen, aber in der ersten Anprobe, bevor die Taschen geschnitten sind, auch überprüfen, ob alles in guter Balance zueinander steht. Einfach mal viele Bilder von Exemplaren renommierter Schneider ansehen, man bekommt schnell ein Gefühl dafür.

Zur Schulterform: Auch da gibt es naturgemäß kein richtig oder falsch, aber gerade die eingeschobene Hemdschulter à la Napoli ist dediziert informell. Mit einem neutral anthrazitgrauen Geschäftsanzug passt das nicht zusammen, es ist ursprünglich eher eine Schulterform für legere Sportsakkos. Mit anderen Worten, es ist ideal für @dedolph. Das kann man natürlich als expliziten Stilbruch bringen, aber wie ich Dich verstanden habe, möchtest Du einen Anzug, der sich erst mal nach klassischen Aspekten nach allen Seiten absichert und überhaupt nichts falsch macht. Dagegen ist für einen ersten Bespoke-Anzug auch gar nichts zu sagen. Ich würde eine natürliche oder Roped Shoulder nehmen (letztere ist mehr meine Domäne, der Vollständigkeit halber, jeder hat ja so seine eigenen Befangenheiten ).
 
Das kann man natürlich als expliziten Stilbruch bringen, aber wie ich Dich verstanden habe, möchtest Du einen Anzug, der sich erst mal nach klassischen Aspekten nach allen Seiten absichert und überhaupt nichts falsch macht.
Absolut treffend.

Der erste Termin zum Messen und "Bedarfsklärung" hat nun stattgefunden. Gianni Lovadina ist wirklich ein sympathischer interessanter Mensch. Ich respektiere ungemein, dass er in dem Alter so fit und engagiert ist und hier offenbar eine Leidenschaft gefunden hat, der er tatsächlich ein Leben lang nachgeht.

Ich versuche noch in den nächsten Tagen alles zum Schnitt und teilweise zu den Details zusammenzufassen, damit das Projekt auch für ihn und seine Partner möglichst reibungslos läuft.

Entsprechend Euren Hinweisen suche ich auch nach Bildern, weil die den Stil über die Sprachgrenze hinweg auch am besten verdeutlichen können.
Etwas zu 100% meinen Vorstellungen entsprechendes habe ich noch nicht gefunden. Einige Illustrationen aus Flusser's Werken habe ich für den gestrigen Termin bereits vorbereitet und ausgedruckt um zu verdeutlichen, dass ich einen klassischen Schnitt bevorzuge (wobei die i.d.R. auch Stilelemente enthalten, die ich wiederum nicht will, wie z.B. die zu niedrige Kassur oder zu breite Revers).
Einen Anzug von Herr Lovadina für einen seiner Kunden habe ich von der Recherche noch in Erinnerung der klassisch und breit geschnitten war, jedoch recht enge Ärmel aufwies - offenbar auf ausdrücklichen Wunsch des Kunden.
Das will ich unbedingt vermeiden. Im Rahmen dessen was stilvoll und angemessen ist, will ich möglichst im Brust-, Schulter-, und Armbereich genug Platz. (Vielleicht bin ich da auch etwas beeinflusst von meinen negativen Erfahrungen mit RTW.)

Bevor ich Bilder sende, würde ich gerne Euch nochmal konsultieren:
Würdet Ihr das folgende hinsichtlich Schnitt und Details passend empfinden?
https://www.askokey.com/shop/suits/single-breasted-office-suit
(Die Hose müsste ich deutlich niedriger tragen oder Hosenträger verwenden, da sie bei mir - vermutlich wegen etwas Bauchansatz - im Tagesverlauf immer herunterwandern würde.)
 
Man sagt zu Gianni einfach Drape und dann passiert das so. Ich denke das Bild ist ne ganz gute Referenz. Ich hatte ein Paket mit Details aus 5 Quellen und das hat auch ganz gut geklappt.
Gianni ist das mit der Bewegungsfreiheit sehr wichtig, er hat mich quasi den Hampelmann machen lassen beim Fitting

Hosenträger sind sowieso gut, ich würde aber trotzdem noch zusätzlich Seitenversteller nehmen, damit man auch die Option hat, mal kurzzeitig auf die Hosenträger zu verzichten.
 
Darf man nach der Preisvorstellung fragen? Ich habe dafür ja noch überhaupt kein Gefühl. Wo liegt man da mit den genannten Anforderungen circa?
 
Daran tust Du gut. Es ist das, was ich mit Balance meine. Es gibt nicht nur den einen Schnitt, der zum Erfolg führt, aber der Schnitt muss in sich stimmig sein, sonst sieht es einfach intuitiv nicht gut aus. Enge Ärmel, weiter Schnitt, das passt nicht gut zusammen.

Im Rahmen dessen was stilvoll und angemessen ist, will ich möglichst im Brust-, Schulter-, und Armbereich genug Platz. (Vielleicht bin ich da auch etwas beeinflusst von meinen negativen Erfahrungen mit RTW.)
Wie schon angeführt wurde, Dein Stichwort lautet Drape Cut. Das geht mehr auf eine spezifische englische Savile-Row-Tradition zurück (mal ein paar Google-Schlagworte für Bilder: Frederick Scholte, Anderson & Sheppard, Steven Hitchcock, Thomas Mahon), die vor hundert Jahren als "zivile", lässige Gegenbewegung zum strengen, muskulösen Schnitt der ursprünglich in der militärischen Uniformanfertigung beheimateten Savile-Row-Schneider entstand. Die ist jetzt nicht im Sinne einer zu weiten Passform misszuverstehen, aber lässt Raum an wichtigen Stellen, ohne dass die Silhouette zu weit aussieht.

Ich habe meine Probleme mit ihm, weil ich glaube, dass er den Drape Cut nicht richtig verstanden hat. Nichtsdestotrotz hat er in der Bespoke-Schnittform, die er für sich gestaltet hat und nun auch für andere als Grundlage nutzt, etwas geschaffen, was ein wenig unlocker und gezwungen rüberkommt, aber für seine speziellen körperlichen Gegebenheiten definitiv funktioniert: für einen Bodybuilder nämlich. Stark abfallende Schultern, Muskelpakete an den Armen, im Oberkörper, an den Beinen, kein Gramm Fett, relativ schmale Taille und damit enorm großer Drop, das ist mit die schwierigste Körperform für sartoriale Kleidung, weil man bei einem zu körpernahen Schnitt wie ein Superheld aus einem Marvel-Comic aussieht. Arnold Schwarzenegger in seinen besten Trainingszeiten wäre ein Topkunde für ihn geworden.

Aber für alle anderen finde ich seine Designentscheidungen fürchterlich übertrieben und nicht zielführend. Und damit meine ich nicht die Leibhöhe der Hose, die ist super und ich würde Dir auch zu einer höheren Leibhöhe raten, die gerade mit Bauchansatz wunderbar funktioniert und es auch erlaubt, mit etwas mehr Öffnung der Vorderteile des Sakkos zu spielen, ohne dass das gefürchtete Hemddreieck unter dem Schließknopf erscheint. Ja, Hosenträger sind dann eine gute Idee und ein willkommenes zusätzliches Styling-Accessoire. Aber die riesige Beinweite, die schon in den Bereich einer Marlene-Hose aus den frühen 1930ern hineinreicht (und auch nur mit bestimmten fluffigen Stoffen ohne zu viel Stand zusammenspielt), ist einfach völlig übertrieben und macht den Anzug zum Kostüm. Zudem sollte man mit geraderen Schultern auch eine höhere Kassur und ggfs. bei entsprechender Taille einen niedrigeren Schließpunkt tragen, das wirkt dann proportionierter. Das leicht glockig nach unten auslaufende Sakko kann man machen, mag ich auch selber, aber es steht definitiv nicht jedem und passt auch nicht zu jedem Schnitt.

Was AskOkey aber sehr schön zeigt, ist, dass man mit Bespoke Dinge realisieren kann, die nicht in die üblichen Sehgewohnheiten industrieller Konfektion fallen, aber trotzdem am eigenen Körper gut funktionieren können. Das meine ich auch damit, dass man mit Bespoke das nächste Level erreicht, wo es nicht nur darum geht, eine ordentliche Passform zu realisieren, sondern um wirkliches Gestalten im Rahmen des nicht gerade kleinen sartorialen Kanons. Konfektion und MTM als spezielle Variante davon bilden davon nur einen kleinen Ausschnitt ab, den dann leider alle automatisch als Standard hinnehmen.