Nicht falsch verstehen, ich schrieb das aus meiner Perspektive, dass ich verschiedene Situationen unterscheide und von diesem Kontext meine Kleidungswahl abhängig mache. Das "Sternerestaurant" war dabei nur ein Beispiel für gehobene Gastronomie, bei der ich mich dem Anlass entsprechend gerne etwas formeller kleide. Von mir aus; dass dies niemand erwartet und die anderen Leute nicht so handeln, ist mir aus extensiver eigener Erfahrung nur allzu bewusst.
Natürlich kann ich mich auch entsprechend anziehen für ein preisgünstiges Restaurant, der Rahmen ist dabei aber in der Regel sehr informell. Somit würden Formalitätsgrad der eigenen Bekleidung und des Restaurants nicht korrelieren
- das wäre mir egal, wenn ich z.B. direkt aus dem Büro komme. Aber z.B. am Wochenende, beim Treffen mit engen Freunden, käme mir das unpassend vor.
Ich hab‘ kürzlich auf Instagram ein Foto mit Freunden von Leonard Logsdail (US-Maßschneider) gesehen, das meine Einstellung dazu perfekt aufnimmt:
https://www.instagram.com/p/CNC4doDrYby/
Gerade engen Freunden ist doch völlig egal, was man gerade angezogen hat, insbesondere wenn sie die eigenen Kleidungsgewohnheiten kennen. Kleidung nicht als chamäleonartige Anpassung an eine Situation, sondern Kleidung als konstanter Ausdruck der eigenen Persönlichkeit.
Und die Lokalität fühlt sich meiner Erfahrung nach eher aufgewertet, wenn sie einen Gast haben, der sich Mühe mit seiner Kleidung gegeben hat. Wie ich schon anführte, kann man das ja auch noch vom Formalitätsgrad regulieren. Ich war schon im Donegal-Tweed-Anzug mit Krawatte und EST (mit Schal und Tweed-Flatcap) in hiesigen Irish Pubs und damit dort jeweils u.U. der einzige Anzugträger ever, aber gepasst hat das schon, auch für die Umstehenden und -sitzenden.
Auch im Münchner Augustinerkeller (ich habe eine kleine Schwäche für Biere dieser Brauerei) war ein Glencheck-Saxony-Tweed und im Sommer ein heller Leinenanzug problemlos tragbar, ich war jeweils nicht mal der einzige Anzugträger. Und das sind nur einzelne Beispiele von vielen.
Ich höre, was Du sagst, und ich weiß, dass Du ernsthaft interessiert bist, aber ich möchte damit neben Dir auch denjenigen Mut machen, die sich nicht so recht trauen, sartoriale Kleidung in ihren Alltag einzubinden und damit Spaß zu haben. Da geht viel mehr, als man am Anfang denken mag.
Rhetorische Frage? Wiederum meine Sicht: Am Arbeitsplatz macht es mir nichts aus, einer von ganz wenigen in geschneiderter Kleidung zu sein. Man kennt mich so und die Vorgesetzten stört das nicht. Eine Krawatte würde da nicht viel dran ändern.
Und in der Freizeit gibt es eben verschiedene Situationen/Kontexte, an die ich meine Kleidung anpasse. Aber auch da bin ich in der Regel formeller, "besser" gekleidet als die meisten Freunde/Anwesende.
Ich glaube auch nicht, dass das Gros der Mitforisti ängstliche mit-dem-Strom-Schwimmer sind, die ihre Kleidungspräferenzen im Geheimen ausleben müssten. Es fand wohl im Zuge der Casualisierung eine gewisse Abkehr von Anzug und Krawatte statt. Man kann seine Liebe zu schönen Stoffen und Kleidern auch bei weniger formellen Teilen zur Geltung bringen.
Man kann immer ganz viel tun, aber warum sollte man, wenn man selbst daran interessiert ist? Ich glaube, dass sehr viele jüngere Kleidungsinteressierte ohne große Erfahrung sehr unsicher sind, was sie wo tragen können, ohne „anzuecken“. Dazu gab es schon zahllose Diskussionen über die Jahre und diese ist eine weitere davon, das ist ja nicht ohne Grund so. Nach meiner (beschränkten
) Erfahrung kommen Mitglieder der ökonomischen Oberschicht damit leichter zurecht, vermutlich weil sie weniger Sorge haben anzuecken. Deswegen meine Mittelschicht-Frage, die nicht nur an Dich gerichtet war.
Schliesslich denke ich, man sollte die Kleidung und deren Wirkung auf andere nicht überbewerten. Die Leute nehmen den Auftritt zwar schon wahr, aber weniger vor allem weniger detailliert als man es sich selbst ausmalt (vgl. "spotlight effect").
Das stimmt auf jeden Fall und das ist ein weiteres Argument in meine Richtung. Die meisten Menschen haben Besseres zu tun, als sich über Anzug und Krawatte an anderen aufzuregen. Ein Grund mehr, sich damit nicht künstlich zurückzuhalten.