Ich finde, Du machst Dir einfach zu viele Gedanken. Arbeit auf dem Bau ist halt im Anzug mit Krawatte nicht möglich, weil es nun mal spezielle Arbeitskleidung erfordert. Aber wieso glaubstDu, dass ein preisgünstiges einen Anzug verbietet oder ein teures Restaurant einen solchen erlaubt? Ich kann verraten, dass der Kleidungsstandard im Sternerestaurant durchaus den eines durchschnittlichen Bürotages unterschreiten kann (unglücklicherweise möchte ich hinzufügen
).
Ich vermute, Du richtest Dich dabei eher nach der Erwartungshaltung anderer und nicht nachdem, was grundsätzlich machbar und angemessen ist und was nicht. Damit eine bestimmte Kleidung in einer bestimmten urbanen Umgebung angemessen ist, muss es nicht notwendigerweise jeder tragen.
Nicht falsch verstehen, ich schrieb das aus meiner Perspektive, dass ich verschiedene Situationen unterscheide und von diesem Kontext meine Kleidungswahl abhängig mache. Das "Sternerestaurant" war dabei nur ein Beispiel für gehobene Gastronomie, bei der ich mich dem Anlass entsprechend gerne etwas formeller kleide. Von mir aus; dass dies niemand erwartet und die anderen Leute nicht so handeln, ist mir aus extensiver eigener Erfahrung nur allzu bewusst.
Natürlich kann ich mich auch entsprechend anziehen für ein preisgünstiges Restaurant, der Rahmen ist dabei aber in der Regel sehr informell. Somit würden Formalitätsgrad der eigenen Bekleidung und des Restaurants nicht korrelieren
- das wäre mir egal, wenn ich z.B. direkt aus dem Büro komme. Aber z.B. am Wochenende, beim Treffen mit engen Freunden, käme mir das unpassend vor.
Ich finde es völlig in Ordnung, wenn jemand einen Kleidungsstil eines niedrigeren Formalitätsgrads bewusst mehr mag und deshalb mehr anwendet. Das ist selbstbestimmtes Leben, das aber eben auch umgekehrt gilt. Ich habe schon mitbekommen, dass Du Dich mit Anzug und Krawatte diffus unwohl fühlst, weil Du glaubst, das bist nicht Du, es sei denn, eine künstlich von Dir aufgesetzte Situation verbunden mit einem Setup dafür "erlaubter" Kleidung (= Kontext) ermöglicht es Dir. Das finde ich absolut okay, ist aber nur Dein ureigener Weg.
Wie gesagt, das von mir Geschriebene ist meine Perspektive ohne Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Ich habe übrigens auch keine Probleme mit einer Krawatte bzw. Anzug und Krawatte. Das trage ich gerne und ich nehme auch die entsprechenden Gelegenheiten wahr, das zu tragen (und das können auch Gelegenheiten sein, bei denen ich der Einzige so gekleidete bin). Aber mit den "Kumpels" zum Burger essen und Bier trinken ist keine solche Gelegenheit für mich
Erlaubt ist, was gefällt und jeder kann das für sich so handhaben, wie er es für richtig hält. Deshalb lautet die Antwort auf die Frage:
Die Frage, die Tittapá schon indirekt angerissen hat, ist natürlich auch: Warum muss man sich neuerdings in einem Forum von Enthusiasten sartorialer Kleidung für das Tragen sartorialer Kleidung entschuldigen?
Muss man nicht. Es mag sein, dass mit einer zunehmenden "Casualisierung" der Bekleidung - gerade auch am Arbeitsplatz - der Anzug in eine Nische gedrängt und entsprechende Sichtungen rarer wurden.
Was ist seitdem passiert? Ist das so ein Mittelschicht-Ding, die Angst, etwas gesellschaftlich-sozial verkehrt zu machen, nicht dazu zu gehören, und der unbedingte Wille, mit dem Strom zu schwimmen?
Rhetorische Frage? Wiederum meine Sicht: Am Arbeitsplatz macht es mir nichts aus, einer von ganz wenigen in geschneiderter Kleidung zu sein. Man kennt mich so und die Vorgesetzten stört das nicht. Eine Krawatte würde da nicht viel dran ändern.
Und in der Freizeit gibt es eben verschiedene Situationen/Kontexte, an die ich meine Kleidung anpasse. Aber auch da bin ich in der Regel formeller, "besser" gekleidet als die meisten Freunde/Anwesende.
Ich glaube auch nicht, dass das Gros der Mitforisti ängstliche mit-dem-Strom-Schwimmer sind, die ihre Kleidungspräferenzen im Geheimen ausleben müssten. Es fand wohl im Zuge der Casualisierung eine gewisse Abkehr von Anzug und Krawatte statt. Man kann seine Liebe zu schönen Stoffen und Kleidern auch bei weniger formellen Teilen zur Geltung bringen.
Schliesslich denke ich, man sollte die Kleidung und deren Wirkung auf andere nicht überbewerten. Die Leute nehmen den Auftritt zwar schon wahr, aber weniger vor allem weniger detailliert als man es sich selbst ausmalt (vgl. "spotlight effect").