Wo hört "klassisch" auf...

Wo wir bei der Art von Sozialklimmbimm wären, die ich persönlich immer nur schwer nachvollziehen konnte. Vorlesungen in Pädagogik etc. fand ich immer schrecklich: Spätestens bei Themen wie selbstreferrenziell, selbstreferrenziell.... kannst du dir sicher sein, dass ich vollkommen durchdrehen und aus dem Raum gehe ;)

Naja, die Erziehungswissenschaften waren auch an meinem Studienort ein Hort der Mediokrität und Phrasendrescherei, aber ich behaupte mal, Pierre Bourdieu zu lesen ist einer der mannigfaltigen Wege aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Oder, wie es die Amerikaner so schön formulieren: a real eye-opener. http://de.wikipedia.org/wiki/Habitus_(Soziologie)
 
...d.h. Kultur in Monaco oder Marzahn hat die gleichen komplexen Mechanismen (nur die Wahl der Mittel differiert)...

Dem kann ich nur zustimmen. Soziale Kampfbegriffe wie "Kultur", "Stil", "Kunst" oder "Geschmack" sind für mich letztendlich nichts als der Ausdruck einer mobilen Struktur, die sich mal so, mal anders manifestiert. Das sieht man beispielsweise daran, daß man einerseits im relativ richtigen Kontext im weiten Jogginganzug aus Baumwolljersey mit großen Logoaufdruck stil- und geschmackvoll gekleidet sein, kultiviertes Auftreten versinnbildlichen kann, im relativ falschen dagegen wahlweise geschmack- oder stillos erscheint. "Kultur(en)" sind dabei aber beide Kontexte. "Klassisch" oder "altmodisch" auszusehen ist an und für sich betrachtet damit schon eine Leistung, denn um so auszusehen, muß ich ja die Parameter richtig setzen, die richtigen Mittel wählen, mithin das geeignete Vokabular finden, eine Art stilistisch-universalgrammatische Matrix zu besetzen.

Was ist klassisch?

Meiner Ansicht nach findet man klassisch am ehesten im Luxus-Preissegment d.h. Sacko ab 1.000 € oder im Bespoken-Bereich. Diese Sachen kann man i.d.R. über ca. 10 Jahre und ggf. länger tragen, ohne dass Sie direkt unmodern wirken.
Wirklich? An einem Sakko für 1.000,- würde mich vor allem der investierte Betrag davon abhalten, es zu entsorgen, sofern es rein um die Preiskategorie geht.

Um klassische Garderobe täglich tragen zu können, muss man ein Stück weit unabhängig sein und diese Unabhängigkeit auch zeigen dürfen - ohne das es seltsam wirkt. Dies geht nur in bestimmten Berufen und ab einem bestimmten sozialen Status/Umfeld.
Oder aber: Man muß das angeeignete (und wer darüber so ausführlich diskutiert, hat sich sicher das ein oder andere in dieser Hinsicht angeeignet, zumal wir ja nicht als Dressmen geboren werden) Vokabular flexibel genug anwenden können, um die eigene Haltung plausibel zu unterstreichen, aber auch sozialen Codes unseres Umfeldes zu genügen.

Altmodisch ist in meinen Augen nicht klassische Herrenkleidung, sondern "aus der Mode gekommene" ehemals supermoderne Kleidung.
Die Frage ist nur, ob so nicht jede Kleidung irgendwann "altmodisch" ist, sprachlich (naja, etwas vereinfacht) also eine alte Mode darstellt, auch das, was wir hier "klassisch" heißen.
 
Die Frage ist nur, ob so nicht jede Kleidung irgendwann "altmodisch" ist, sprachlich (naja, etwas vereinfacht) also eine alte Mode darstellt, auch das, was wir hier "klassisch" heißen.

Ich glaube, daß Günter meinte, Kleidung wie aus den 70ern stelle einen modischen Extrempunkt dar (wie beim Hosenschlag). Solche Extreme sind dann aber nur kurz up-to-date, während ein mittelweites Hosenbein einen weiteren Zeitraum abdeckt, während dessen es als gerade modisch angesehen werden kann. Es geht ihm m.E. also eher um eine gewisse "Zeitlosigkeit".

Das ist nun ein Ansatz, dem ich durchaus Gefallen entgegenbringe, wobei natürlich nicht das ängstlich gewahrte mediokre Mittelmaß gemeint ist.

Grüße Zieten
 
So war die Frage gemeint...

Die Frage ist nur, ob so nicht jede Kleidung irgendwann "altmodisch" ist, sprachlich (naja, etwas vereinfacht) also eine alte Mode darstellt, auch das, was wir hier "klassisch" heißen.

Und genau darum ging es mir ursprünglich in der Frage!
Um das "irgendwann" bzw. wann ist das "irgendwann"?
Und hierbei nicht "Mode" im Sinne der Reversbreite, sondern
generell der Wandel der Bekleidungsnormen.

So können wir den langsamen Tod des Stiefels, des Hutes und vielleicht auch des Mantels damit in Verbindung bringen, dass sich das Leben zunehmend inhäusig abspielt. Dazu noch, dass sich "Funktionskleidung" der draußen überwiegend ihrem Beruf nachgehenden auch nicht mehr aus Lederstiefeln und Lodenmänteln, sondern aus Polyxxxmembran besteht.

Um es hier mal historisierend aus der Diskussion um persönlichen Geschmack heraus zu holen, ein Beispiel aus der guten alten Zeit,
in der der Mann von Welt stets Kniebundhosen mit weißen Strümpfen trug.
Da hatten doch ein paar Halbstarke bourgeoisen Workwear in ihre Mode geholt und trugen lange! Hosen. Fürchterlich! Aber bestimmt in der nächsten Saison wieder vorbei.
Zehn Jahre später konnte man ein paar Herren mit Bildung noch sagen hören, dass diese Unsitte um sich gegriffen hätte und sich keiner mehr vernünftig und mit Anstand vorteilhaft zu kleiden wisse...
... zwanzig Jahre später waren diese Herren mitsamt ihren Kniebundhosen altmodisch.

Und nun?
Gruß Stefan
 
...in der der Mann von Welt stets Kniebundhosen mit weißen Strümpfen trug.
Da hatten doch ein paar Halbstarke bourgeoisen Workwear in ihre Mode geholt und trugen lange! Hosen. Fürchterlich! Aber bestimmt in der nächsten Saison wieder vorbei.
Zehn Jahre später konnte man ein paar Herren mit Bildung noch sagen hören, dass diese Unsitte um sich gegriffen hätte und sich keiner mehr vernünftig und mit Anstand vorteilhaft zu kleiden wisse...
... zwanzig Jahre später waren diese Herren mitsamt ihren Kniebundhosen altmodisch.

Ich befürchte, daß dies kein so gutes Beispiel ist, weil der Kniebundhose zusammen mit ihren Trägern in der Französischen Revolution der Garaus gemacht wurde. Das waren also keine Halb-, sondern Ganzstarke, allerdings war die Langhose auch nach der Restauration noch da.

Der Adel in Frankreich als früherer Vorreiter europäischer Modevorstellungen hat trotz aller Anstrengung auf allen Gebieten aber nicht mehr die Bedeutung erlangt wie vor 1789. Also ist hier Mode vor allem und nicht nur nebenbei Ausdruck der Gesellschaftsverhältnisse und ein soziales Bekenntnis, anders als wohl in der Ausgangsfrage unterstellt. Aber das wurde ja schon hier als Phänomen angerissen.

Grüße Zieten
 
Ich für meinen Teil bewege meinen Hintern durchaus mal per pedes und zwar weiter als bis zum Auto.

Mäntel, Hüte, Stockschirme sind draußen unschätzbar sinnvoll. Dein Argument mag aber leider für die breite Masse zutreffen. Hierraus muss ich aber leider ableiten, dass ein ungesunder Gesamttrend innerhalb der Gesellschaft vorliegt, der weit über Kleidungsfragen hinaus geht.

Ich denke mir jeden Morgen: Warum soll ich, wenn der Zug schon 40Minuten vor Arbeitsbeginn ankommt in den überfüllten Bus steigen, mich quetschen und treten lassen, wenn ich in 30 Minuten bequem zu Fuß dorthin kommen kann?
Nebenbei habe ich 2,5-3km Bewegung gehabt und werde auch deutlich weniger krank.

Scheinbar stehe ich mit dieser Ansicht aber ziemlich alleine dar, was mir ja gerade Sorgen macht.

Ich finde nur nicht, dass man derart "altmodisch" definieren kann. Die Gegenstände wurden ja schließlich nicht durch neue ersetzt, welche sagenhaft besser sind. Nein, man hat einfach den Anlass, für welchen die Gegenstände gedacht waren, abgeschafft.

Völlig richtig. Ich trage Hut und Schirm, ob nun "altmodisch/modern" oder auch nicht. Meine Frau und ich tragen einen Schrittzähler, einfach deshalb, damit man sich in gewisser Weise diszipliniert, sich ausreichend zu bewegen.
Ich besitze ein Auto, laufe aber dennoch ausgesprochen gern.
Altmodisch? Gern!

LG
Heinz
 
Ich befürchte, daß dies kein so gutes Beispiel ist, weil der Kniebundhose zusammen mit ihren Trägern in der Französischen Revolution der Garaus gemacht wurde. Das waren also keine Halb-, sondern Ganzstarke, allerdings war die Langhose auch nach der Restauration noch da.

Die Kniehose blieb neben allen diesen Neuheiten unausgesetzt in Gebrauch und erhielt sich fast unverändert in der um das Jahr 1790 üblich gewesenen Form. Sie allein trug man zum Salonfrack, sie herrschte an den Höfen und bei zeremoniellen Gelegenheiten und verschwand erst gegen das Jahr 1830. http://de.academic.ru/dic.nsf/dewiki/457721 (über den Frack)
...allerdings nur im nicht so ganz revolutionären Resteuropa.

Nichts desto trotz möchte ich mich für das unbedarfte Beispiel entschuldigen. Ich wollte den modischen Wandel nur aus der "gefällt mir - gefällt mir nicht" Diskussion heraus bringen.

Grüße Stefan
 
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