Ich finde jemand der über Finessen im Bezug auf Verhaltensweisen am Tisch fragt, direkt zu unterstellen er würde nicht mal über grundlegende bürgerliche Etikette verfügen, schon ziemlich heftig. Zumal bürgerlich eben gerade aussagt, dass es sich nicht unbedingt um die Kreise handelt, in denen man dermaßen kleinkariert auf solche Details achtet und sich dann künstlich darüber aufregt um anschließend dem Querulanten eine Gossenherkunft anzuhängen. ich hab zwar noch nie den Knigge gelesen, verfüge dennoch über einen gewissen Anstand sowie gesunden Menschenverstand, welcher meist bedeutend mehr wert ist als das sklavische Befolgen von Regeln und hatte bisher noch keine Probleme bei gesellschaftlichen Anlässen.
Es scheint allerdings Mode zu sein, dass jeder der den Knigge nicht beherrscht ein Tölpel ohne Manieren ist und sich grundsätzlich nicht benehmen kann.
Der Threadersteller hat gezielt nach Knigge gefragt - nicht wir haben ihn darauf hingewiesen. Weshalb fragt er danach? Er hat doch selbst beobachtet, dass es in seinem Umfeld jeder anders macht. Eine gewisse "Vielseitigkeit" (wie auch immer die aussehen mag) scheint akzeptiert zu sein. Weshalb nun der Ruf nach dem "objektiv richtigen" Maßstab Knigge? Es wäre unfair, ihm aufgrund dieser Frage das Motiv eines lieblosen Abarbeitens von Gesellschaftsregeln zu unterstellen, damit er seiner grandiosen Karriere keinen Schaden zuzufügt. Es sieht aber danach aus.
Meine Ansicht dazu: Die Benimmregeln bei Tisch sind zu 99% keine sinnlosen "sklavischen" Regeln, um Emporkömmlinge auszusortieren, sondern Grundsätze, die das gemeinsame Essen zu einem angenehmen, bekömmlichen und ästhetischen Miteinander machen sollen. Im Optimalfall hat auch der Gastgeber bzw. das gastgebende Restaurant einen guten Abend mit den Gästen, da sie sich angemessen verhalten, die Einrichtung nicht zerstören und die anderen Gäste nicht provozieren oder mit Essen bewerfen.
Auch für die "kleinkarierten" Regeln gilt: Dass man nicht mit dem Messer vor anderen herumfuchtelt, das Besteck von außen nach innen verwendet (anstatt willkürlich das Besteck aufzubrauchen, um dann zum Dessert nur noch das Fischmesser übrig zu haben), die Themen Geld / Politik / Religion / Krankheiten meidet (damit keine weltanschaulichen, medizinisch ekelhaften oder schlicht peinlichen Streitigkeiten entstehen oder damit den Gästen nicht durch das plumpe Zurschaustellen von glitzerndem Reichtum das Essen wieder hochkommt), dass man nicht aufsteht, während andere noch essen, dass man nicht den Kopf über den Teller beugt (so dass kein Blickkontakt mehr möglich ist) etc. hat einzig den Zweck, dass das gemeinsame Mahl ein schönes ist. Und zwar für alle am Tisch.
Übrigens ist der Knigge als Regelwerk keineswegs entstanden, damit sich die gesellschaftliche Elite gegen Aufsteiger abschotten kann. Ganz im Gegenteil: Hätte die Elite dieses Ziel verfolgt, hätte sie garantiert nicht ihren Codex in einem Buch abdrucken lassen.
Ich selbst gehe sehr gerne mit Menschen essen, die die grundlegenden Verhaltensweisen bei Tisch ernst nehmen und mir damit ihren zwischenmenschlichen Respekt zeigen. Wer keinen Respekt zeigt, mit dem gehe ich nicht gerne essen. Menschen, die mit vollem Mund sprechen oder beim Essen ihren Kopf in die Suppe hängen lassen oder beim Essen eine tief ins Gesicht gezogene Mütze aufbehalten, sind als Essenspartner kein Genuss.
Wer es nicht besser weiß, weil er aus sehr einfachen Verhältnissen kommt, der soll mich wenigstens mit gutem Witz für seine schlechten Tischmanieren entschädigen. Ob Knigge das auch so sieht? Keine Ahnung, ich habe diese Bücher nie gelesen und hätte auch keine Lust dazu.