Vintage & trilateral

Mit Sicherheit kam der Schneider aus Norditalien, Reversform/Kassur sind gute Indizien.
Ebefnfalls Indizien, aber weniger gute, wären die Schulter (der Kontext aus US Markt und Datierung lassen einen Auschluss Süditalienischer Maßarbeit weniger zu als es bei einem Anzug der gestern in Europa gemacht worden wäre), außerdem die parralele Positonierung der Knöpfe.
Die Knopflöcher sind handgenäht.
Die Art wie sie genäht, bzw. die Platzierung der Knötchen aus denen handgenähte Knopflöcher bestehenen, lassen ebenfalls eher auf Norditalien schließen.
Die Knoten wurden nicht im inneren der Knopflöcher geschlossen (fast unmöglich etwas anderes in Süditalien zu finden), sondern "obeauf", sie stehen also ein wenig ab.
Tendenziell ist das sehr sehr Mailand, dazu lassen sich auch gut einige Bilder derKnopflöcher von Grimods Mailänder mbt heranziehen.
Außerdem ist Schulternaht ist nicht zu sehen und ich behaupte, dass liegt nicht nur an der Perspektive, sondern auch daran, dass sie (wie dann garantiert auch die Ärmelnähte), nicht als Kappnähte ausgeführt sind wie z.B. in Neapel üblich (sowohl in rtw als auch bespoke), sondern als franz. Nähte und entsprechend weniger sichtbar (wegen der Nomenklatur sollte mich FSK korrigieren, der kennt sich mit den Deutschen Nähbegrifflichkeiten sicher besser aus).
Der Kragen ist von Hand angenäht, das sehe ich sogar auf dem überbelichterten Bild (ob der Stück Eingenstoff umgeschlagen ist oder nicht, ist irrelevant, das machen heute viele um Qualität vorzugaukeln).
Das Revers ist wahrscheinlich von Hand pikiert, muss aber nicht, diese Stichlein auf der Reversrückseite können auch bei maschinell pikierten Einlagen auftreten (!!!).
Ist in diesem Fall aber sehr unwahrscheinlich.
Ob der Kragen von Hand pikiert wurde kann man nicht erkennen.
Der Innensaum der Hose ist von Hand fixiert, aber scheinbar nicht versäubert (mit Kettelnaht/Overlockstichmaschine, Zickzackstich wie bei der Zugabe sichtbar, wobei diese "Fixierung" evtl. als doppelte Überwendlingsnaht betrachtet werden könnte, das kann FSK sicher sagen :)).
Das Futter ist, denke ich, von Hand eingesetzt (wobei das nicht relevant ist, die beste Verarbeitung, und zwar wirklich die beste weil technisch sinnvollste, ist partiell Maschinell nähen für Stabilität, aber komplett von Hand nachfixieren, also quasi doppelte Arbeit).
Die gezeigte Stelle (unterkante des Futters) sollte aber von Hand gesetzt sein, maschinelle Nähte an dieser Stelle reißen komplett durch, wenn eine Naht bricht!
Die Verarbeitung der Webkante des Stoffes hat wahrscheinlich eher eine dekorative Rolle gespielt als mit der Stoffnutzung zu tun gehabt, die 1.5cm helfen eigentlich niemandem weiter der nicht genug Stoff hat (tatsächliche Stoffknappheit würde eher durch Stückelung indiziert werden).

Kann natürlich auch alles Quark sein, aber so viel erstmal von Don Paolo's Märchenstunde.
 
Tausend Dank. Faszinierend, was ein guter Spurenleser alles erkennen kann. Der Anzug stammt aus St. Louis von (Salvatore) Cipolla Tailors. Mehr weiß ich leider auch nicht. Er passt mir sehr gut und wenn ich das nötige Kleingeld habe, werde ich ihn mir wohl auf den Leib umschneidern lassen, wie schon meinen Vintage Tweed von James&James.
 
C_N hat vieles wichtige und interessante ja bereits gesagt. Hier noch einiges, was mir auffällt:

Der Anzug ist einer der klassischen Belege für italienische Schneiderarbeit, die sich sichtbar Richtung England orientiert, dafür sprechen nicht nur Reversform und -abstich, sondern auch die Form der Rockschöße (und natürlich die eher kräftige Schulter mit deutlichem Ärmelfisch). Auch typisch für ältere/traditionelle Anfertigungen: Das Ding ist in jeder Hinsicht no-nonsense. Das sieht man schon an den Details, die auffällig dezent sind, aber eben auch an den nicht überbügelten und handfixierten, sondern lediglich von links genähten und auseinandergebügelten Nähten. Die mit der Overlockmaschine gesäumten Teile sprechen für einen vor allem effizient zu seienden Anzug.
Viele Details wie beispielsweise die Anlage des Hosenschnittes (was man davon erkennen kann) oder die Art, wie die Hosentaschen integriert sind, sind wie aus dem Lehrbuch. Das ist gut, weil dadurch wahrscheinlich sichergestellt wird, dass alle Teile des Anzugs lange halten.

Einige handwerkliche "Schmankerl":
Die Taille ist durch ziemlich heftige Frontabnäher und einiges an Dressur sehr schön herausgearbeitet. Der eher dichte und schwere Stoff macht das natürlich besonders gut mach- und sichtbar.
Das Revers ist leicht bauchig, der Oberstoff ist passenderweise im Reversverlauf dressiert. So wird sichergestellt, dass die Nadelstreifen nicht irgendwo (meist ganz oben und ganz unten) einfach abbrechen. Der Oberkragen ist ebenfalls heftig dressiert, die Nadelstreifen dürften direkt am Halsring gut zwei Millimeter weiter sein als weiter außen.
Die Schulter ist zwar bestimmt englisch inspiriert, aber ästhetisch dann doch deutlich überformt. Eine so schöne Höhlung sieht man eher selten.
Die Ärmel sind mit jeweils nur drei Knöpfen ausgestattet. Dadurch würde ich den Anzug grob in die Sechzigerjahre datieren. Um diese Zeit war es in Kontinentaleuropa (wo der Schneider offensichtlich gelernt hat) üblich, vier Ärmelknöpfe nur für formelle Garderobe zu verwenden. Dadurch ergab sich ein Schema, in dem drei Knöpfe die Norm für Tagsüber darstellte; weniger Knöpfe waren Sportswear, mehr Knöpfe dann festliche Kleidung.
Das Revers ist handpikiert (hier muss ich C_N widersprechen, zur Zeit der Entstehung dieses Anzugs gab es bestimmt noch keine, mit der man die Unregelmäßigkeiten von Handarbeit so nachmachenhätte können, daran hatte man damals gar kein Interesse), für eine Maschinenpikierung mit der Hohlsaummaschine ist das Stichmuster untypisch. Außerdem behaupte ich, dass an den Ecken des Revers, also vor der Kassurnaht, 90 Grad gedreht zum sonstigen Verlauf pikiert wurde. Insgesamt ist die Pikierung eher eng.
Die Knopflöcher sind, wie auch die Kantenfixierungen, handgenäht.
Die Paspeln sind 90 Grad im Stoff gedreht, nicht wie oft in DE/AT nur 45 (finde ich besser) oder wie bei A&S gar nicht (finde ich schlechter).

Was mich noch interessieren würde: Bilder vom inneren Hosenbund und -boden (Englische Bundlösung? Sitzfleck? Falls ja, welche Form, wie fixiert, wie angenäht?) und von den Innenseiten der Passepoil-Taschen (knapp unterhalb des Taschenschlitzes, ich vermute eine handgenähte Paspel). Auch würde ich gerne sehen, ob das Futter rundum von Hand eingenäht wurde oder, wie ich vermute, lediglich entlang der unteren Sakkokante. Außerdem wäre interessant zu sehen, an welchen Stellen im Innenraum Bewegungsfalten ins Sakkofutter eingearbeitet wurden.

Ich finde den Anzug sehr geschmackvoll hergerichtet, Glückwunsch Tom! Vom Zustand her würde ich sagen, dass Du das Stück auf jeden Fall sehr lange tragen können wirst.
 
Ganz vergessen: Der Oberstoff des Revers ist maschinell angenäht, allerdings wäre eine Nahaufnahme von der Kassurnaht interessant, um meine Vermutung zu bestätigen, dass an dieser Stelle (von Hand) geschlossen wurde.
 
Hallo CN und FSK,

wie seid Ihr zu eurem Wissen gekommen? Nur als interessierter Kunde und durch Schneiderbuchlektüre doch nicht, oder?

Gruß Change
 
Oder Textildesign / Textilingenieurwesen studieren/studiert haben oder ganz einfach das Schneiderhandwerk gelernt haben und auch privat an diesem Thema sehr interessiert sein. Könnte ich mir vorstellen, quasi...
 
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