Ich würde indes ein wenig Realismus vorziehen, aber wer bin ich schon.
Bis zu einem gewissen Grad neige ich dazu, Dir zuzustimmen, weil es auch wichtig ist, dass man sich in seiner (Kleidungs-)Haut wohlfühlt. Und das ist nicht immer gegeben, wenn man sein Outfit zu radikal gegen den Strich des Umfelds bürstet.
Andererseits ist dieser "Realismus" meist nur die stille, wenig mutige Kapitulation vor einer unwissenden anonymen Öffentlichkeit gegen die eigenen Wünsche und Ansichten, was in einer völlig unnötigen, selbst auferlegten Unfreiheit mündet. Das zeigt sich in vielen Beiträgen von Forumsneulingen, aus denen man den Spagat zwischen den eigentlichen eigenen Kleidungswünschen und der Unauffälligkeit in der sartorialen Trostlosigkeit deutscher Städte a.k.a. "Die sollen bloß nicht über mich lachen" herauslesen kann. Die beliebtesten Outfits hier sind nicht von ungefähr die, die hochwertige Artikel in legerer, jugendkompatibler Weise mit möglichst wenig öffentlicher Angriffsfläche kombinieren.
Man kann aber nicht predigen, situativen Kleidungsbezug herzustellen, und dann Angst haben, in der Oper - also einem der klassischen Ereignisse für Gesellschaftsgarderobe - einen Smoking zu tragen. Und wo Black Tie gleichzeitig akzeptabel und weitgehend ausgestorben ist, könnte man auch White Tie ohne Probleme tragen, weil der Gegensatz nicht mehr größer werden kann. Zugegeben, vielleicht wäre das in London leichter als in Buxtehude.
Mir persönlich reicht ein dunkelblauer Anzug mit weißem Hemd, dezenter Krawatte, weißem EST und schwarzen Captoe Oxfords in der Oper, aber in den exaltierteren Möglichkeiten zeigen sich ja die schon öfter angesprochenen Vorzüge einer kleidungskulturell proletarisierten Gesellschaft, die man als Kleidungsfreak mit Vergnügen ausloten kann. Wo jede Subkultur sich demonstrativ platzieren darf, kann es eben auch unsere. Und nur der Mut, sie vielfältig auszuleben, rechtfertigt die Subkultur auch letzten Endes.