Zunächst mal freut es mich, dass mein Beitrag im Gazzetino gelandet ist.
Noch mehr werde ich mich freuen, wenn Herr Jondral sein Geschäft in Berlin eröffnet.
Über die Gründe der Wüstenei in sartorialer Hinsicht in Berlin kann man nur Vermutungen anstellen.
Meine These: Berlin war - vor allem im Vergleich zu anderen europäischen Metropolen - immer eine staubige Garnisons- und Residenzstadt. Hier gab gesellschaftlich und geschmacklich allenfalls der Leutnant den Ton an. Der mag ja schmucke Uniformen getragen haben. Der Rest der Zivilisten in Berlin waren aber überwiegend Arbeiter. Denn Berlin war eine Industriestadt. Entsprechend konnten sich diese gar nicht am Offizier orientieren.
Schon bei Fontane (2. Hälfte 19. Jahrundert) lässt sich trefflich nachlesen, dass der Berliner nie "schick" oder faschionabel war. Der Hamburger kuckte auf die Berliner Vettern immer etwas herab. Der Berliner Bürger versuchte es, aber es gelang ihm nie wirklich, stilvoll zu sein. Immer "last season", immer ein bisschen zu laut und prollig.
Von Fontane gibt es das Zitat das da lautet: "Kommst Du nach Berlin, vergiss jeden Gedanken an Eleganz!"
Was dann an Glanz und Intellektuellen und Bürgertum im Kaiserreich sich etablierte und der Stadt Stil (bei)brachte, war überwiegend jüdisch. Am Hausvogteiplatz, dem einstigen Zentrum der Berliner Konfektionsindustrie, saßen zum Beispiel überwiegend jüdische Schneider und Fabrikanten. Wo es in Berlin mal so etwas wie sartoriales Know How und Handwerk gab, war es jüdisch.
Diese Schicht von elegantem Bürgertum wurde von den Nazis vertrieben, totgeschlagen, verbrannt. Ein neben der menschlichen auch kulturelle Tragödie. Mit ihr war - neben Kunst und Kultur - auch die Eleganz wieder verschwunden aus Berlin.
Nun wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in dieser im Stillosen wurzelnden Stadt auf der Oststeite durch die ökonomischen Zwangsbedingungen die Stillosigkeit weiter vorangetrieben. Unvergessen die kackbraunen Röcke und Jacken und Mäntel, die Minderwertigkeit der Stoffe etc. etc.
Im subventionsgemästeten Westen war es nicht besser. Dort wurde die Stillosigkeit mit vielen D-Mark ins noch Stillosere getrieben.
Noch heute sieht man die Folgen. Im Westteil der Stadt falniert ein Rumpfbürgertum mit Pudel und Dackel, das in geradezu erschreckender Weise schlecht gekleidet ist. Meist Mitsechziger in überweiten Pelzmänteln oder unglaublich schlechten, viel zu weiten Kombinationen (kanariengelbes Jacket - gerne Zweireiher!), gelbe Krawatte, kornblumenblaues Hemd mit würgendem Tab-Kragen, graue Bundfaltenhose in Zeltweite). Oft gekrönt dann von riesigen, goldenen Brillen.
Ein Musterbeispiel: Es gibt einen Maßschneider auf dem Kdamm, dessen Handwerk sicherlich höchstes Niveau erreicht. Aber alle Sachen, die dort im Schaufenster liegen und in schöner, reiner und teuerer Handarbeit entstanden sind, sind so derartig lächerlich hässlich, dass es eigentlich zum Weinen ist. Verstaubte Schnitte, schlimme Farben, die ausgesucht grauenhaftesten Krawattenmuster, bizarre Acessoires.
Zusamengefasst: Das Geld, wenigstens einen, wenn nicht zwei oder drei Läden mit Stil finanzieren zu können, gäbe es in Berlin trotz aller Schieflage und Hartz-IV-Empfänger-Dramatik mehr als genug.
Aber die Menschen haben keinen Stil.
Und dort, wo heute junge Menschen in der Stadt sind, dominiert dann die Mitte-Uniform Jeans, Flip-Flops und Vintage-Adidas Jacken...Also auch Stillosigkeit.
Help is needed! Lasst es uns angehen! Berlin braucht Entwicklungshilfe!
A.E.