Jondral bitte nach Berlin!

... seitdem ist Berlin nie als deutsche Stilhochburg in Erscheinung getreten. ... ist wohl ein Nachfrageproblem.

Hi,

in einem Zeitungsbericht habe ich gelesen, dass Berlin weltweit die höchste Dichte an 5-Sterne-Hotels hat. Angeblich 25. Anscheinend verspürt aber der vermögende Berlinreisende keinen Antrieb, sich dort hochwertig einzukleiden zu wollen.

LG
Günter
 
Zunächst mal freut es mich, dass mein Beitrag im Gazzetino gelandet ist.

Noch mehr werde ich mich freuen, wenn Herr Jondral sein Geschäft in Berlin eröffnet. :)

Über die Gründe der Wüstenei in sartorialer Hinsicht in Berlin kann man nur Vermutungen anstellen.

Meine These: Berlin war - vor allem im Vergleich zu anderen europäischen Metropolen - immer eine staubige Garnisons- und Residenzstadt. Hier gab gesellschaftlich und geschmacklich allenfalls der Leutnant den Ton an. Der mag ja schmucke Uniformen getragen haben. Der Rest der Zivilisten in Berlin waren aber überwiegend Arbeiter. Denn Berlin war eine Industriestadt. Entsprechend konnten sich diese gar nicht am Offizier orientieren.

Schon bei Fontane (2. Hälfte 19. Jahrundert) lässt sich trefflich nachlesen, dass der Berliner nie "schick" oder faschionabel war. Der Hamburger kuckte auf die Berliner Vettern immer etwas herab. Der Berliner Bürger versuchte es, aber es gelang ihm nie wirklich, stilvoll zu sein. Immer "last season", immer ein bisschen zu laut und prollig.

Von Fontane gibt es das Zitat das da lautet: "Kommst Du nach Berlin, vergiss jeden Gedanken an Eleganz!"

Was dann an Glanz und Intellektuellen und Bürgertum im Kaiserreich sich etablierte und der Stadt Stil (bei)brachte, war überwiegend jüdisch. Am Hausvogteiplatz, dem einstigen Zentrum der Berliner Konfektionsindustrie, saßen zum Beispiel überwiegend jüdische Schneider und Fabrikanten. Wo es in Berlin mal so etwas wie sartoriales Know How und Handwerk gab, war es jüdisch.

Diese Schicht von elegantem Bürgertum wurde von den Nazis vertrieben, totgeschlagen, verbrannt. Ein neben der menschlichen auch kulturelle Tragödie. Mit ihr war - neben Kunst und Kultur - auch die Eleganz wieder verschwunden aus Berlin.

Nun wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in dieser im Stillosen wurzelnden Stadt auf der Oststeite durch die ökonomischen Zwangsbedingungen die Stillosigkeit weiter vorangetrieben. Unvergessen die kackbraunen Röcke und Jacken und Mäntel, die Minderwertigkeit der Stoffe etc. etc.

Im subventionsgemästeten Westen war es nicht besser. Dort wurde die Stillosigkeit mit vielen D-Mark ins noch Stillosere getrieben.

Noch heute sieht man die Folgen. Im Westteil der Stadt falniert ein Rumpfbürgertum mit Pudel und Dackel, das in geradezu erschreckender Weise schlecht gekleidet ist. Meist Mitsechziger in überweiten Pelzmänteln oder unglaublich schlechten, viel zu weiten Kombinationen (kanariengelbes Jacket - gerne Zweireiher!), gelbe Krawatte, kornblumenblaues Hemd mit würgendem Tab-Kragen, graue Bundfaltenhose in Zeltweite). Oft gekrönt dann von riesigen, goldenen Brillen.

Ein Musterbeispiel: Es gibt einen Maßschneider auf dem Kdamm, dessen Handwerk sicherlich höchstes Niveau erreicht. Aber alle Sachen, die dort im Schaufenster liegen und in schöner, reiner und teuerer Handarbeit entstanden sind, sind so derartig lächerlich hässlich, dass es eigentlich zum Weinen ist. Verstaubte Schnitte, schlimme Farben, die ausgesucht grauenhaftesten Krawattenmuster, bizarre Acessoires.

Zusamengefasst: Das Geld, wenigstens einen, wenn nicht zwei oder drei Läden mit Stil finanzieren zu können, gäbe es in Berlin trotz aller Schieflage und Hartz-IV-Empfänger-Dramatik mehr als genug.

Aber die Menschen haben keinen Stil.

Und dort, wo heute junge Menschen in der Stadt sind, dominiert dann die Mitte-Uniform Jeans, Flip-Flops und Vintage-Adidas Jacken...Also auch Stillosigkeit.

Help is needed! Lasst es uns angehen! Berlin braucht Entwicklungshilfe!

A.E.
 
Lieber AE,

bis zur Nachkriegsphase bin ich vollkommen bei Ihnen. Dass Berlin durch seine Geschichte in besonderer Weise kulturelles Gut verloren hat steht vollkommen außer Frage.

Was die Gegenwart betrifft bin ich allerdings nicht ganz bei Ihnen. Ohne die Stadt intensiv zu kennen (meine Gegenthese beruht auf insgesamt 3 Besuchen) erlaube ich mir folgendes zu sagen und ich denke das lässt sich auch auf andere Städte übertragen:

Die Leute haben wahrscheinlich doch Stil, aber sie sind einfach mittlerweile so faul und bequem, dass sie viel mit sich machen lassen. Es gibt ja auch alles: Es herrscht doch ein Überangebot an Fertiglösungen, die einen schnell und auf einfache Art und Weise für einige Zeit befriedigen, bis man sich wieder etwas gelangweilt nach Ersatz umsieht. Dieser Effekt mag in einer Region wie Berlin, das nun nicht nur physisch sondern auch kulturell durch die oben aufgeführten Gründe zu einer schweren Trümmerwüste wurde, verstärkt auftreten weil ein Zweig der Gesellschaft weggebrochen ist, oder der der übrig geblieben ist wenig Freude an Weiterentwicklung hat (damit ist exemplarisch das staubige Geschäft gemeint), aber das ist doch lange kein Grund den Berlinern Stil abzusprechen. Er hat dann vielleicht nicht die Ausprägung, die man sich selbst für eine Hauptstadt und Metropole mit internationaler Bedeutung wünschen würde - aber das war`s dann auch schon.

Die jondralsche Expansion soll meine Gegenrede aber bitte nicht aufhalten! :)

Abgesehen davon haben sich ja in den letzten 10 Jahren auch einige Geschäfte in Berlin angesiedelt die in Deutschland ihresgleichen suchen. Ich denke dabei an The Englisch Scent, The different Scent, Schuhkonzept, Atelier Fasan, etc. Ich bin auch der Überzeugung, dass eine junge Kultur, mag sie auch in FlipFlops herumlaufen, extrem wichtig ist, weil aus ihr immer wieder neue Pflänzchen hervorsprießen, die insbesondere in Lagen wie Berlin auf fruchtbaren Boden treffen - Sie haben es ja selber beschrieben, die Alteingesessenen schaffen den Wandel manchmal nicht alleine, da braucht es erst Druck vom Markt damit sich etwas verändert. Insofern denke ich hat Berlin gute Aussichten sich innerhalb von 10 bis 20 Jahren zu einem wirklichen Hotspot zu entwickeln, sowas geht ja auch nicht über Nacht und braucht Zeit. Das Stilmagazin ist ja z.B. auch auf lange Sicht angelegt und weniger auf kurzfristige Effekthascherei :)

Das verlorene Gut wird man in Berlin kaum wiederbeleben können, aber wenn sich nur ein paar Mutige und Kreative wagen etwas Neues zu schaffen wird es sicher Erfolg haben. Bestes Beispiel dafür ist aktuell der Chelsea Farmer`s Club. In Berlin gestartet und nun nach Düsseldorf expandiert, besser kann man es kaum hinbekommen.
 
Ich kann Herrn Gerads nur beipflichten, möchte außerdem noch anmerken, dass man gehobene klassische Herrengarderobe nicht mit Stil gleichsetzen sollte, bzw. nicht den Exklusivanspruch darauf. Auch mit Freizeitkleidung und sog. 'Streetwear' kann man sich, natürlich Geschmack und gutes Gespür vorausgesetzt, stilvoll einkleiden. Oder anders ausgedrückt: Nur weil der jeweilige Kleidungsstil nicht den persönlichen Geschmack trifft, ist er nicht automatisch 'stillos'.

Dies ist ein ganz generell gemeinter Einwand, nicht nur auf Berlin bezogen. Ich selbst würde vieles, was ich bei anderen durchaus zu schätzen weiß, nicht tragen.
 
Lieber Andreas, lieber A.E., liebe Stilfreunde,

erstmal möchte ich Euch danken für die wundervollen Beiträge, die so viel Information beinhalten. Meine Erfahrungen decken sich mit Euren. Wie ich schon bei meiner Vorstellung schrieb, konnte ich bis dato meine Liebe zu Berlin im Gegensatz zu Hamburg oder Düsseldorf, nicht entfachen. Die Gründe habt Ihr beide wirklich treffend geschildert. Von Herzen nochmal Dank dafür.

Meine persönlichen Erfahrungen decken sich aber eine Spur eher mit denen von A.E.

In Berlin fehlt es vorallen an Kreativität und Stil. Natürlich klingt das komisch, da uns ja Berlin immer als Metropole a la New York verkauft wird, die niemals schläft und immer in Bewegung ist. Bewiesen wird meine These aber durch eine alte Berliner Redensart: (zur Erklärung ich bin fast Bayer und meine Frau kommt aus Warnemünde an der Ostsee) "Hätten wir die Berge, wärn se höher als die Alpen und hättn wie ein Meer, wärs schöner als die Ostsee". Fakt ist aber, dass es in Berlin weder das eine noch das andere und auch sonst fällt mir nicht viel ein, wofür Berlin wirklich steht. Es mag oberflächlich sein, aber denke ich an Hamburg, sehe ich hanseatische Klasse vor mir, gepaart mit der Leichtigkeit von St. Pauli. Bei München denke ich an bayerische Gemütlichkeit in der nördlichsten Stadt Italiens. Bei Berlin denke ich höchsten an diese grässlich überschmickten Russinen, die das KADEWE bevölkern. Als Haupstadt meilenweit in Stilfragen hinter Wien zurück.

@ Andreas: ich weiss nicht, wie es bei allen von dir genannten Geschäften (ein toller als das andere!) aussieht, bei "The English Scent" aber weiss ich, dass er ohne seinen Online Shop in Berlin nicht überleben könnte.

Aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt und ein wundervolles Fachgeschäft wie "Michael Jondral" würde jeder deutschen Stadt gut zu Gesicht stehen, auch München, also wie wärs?:)

Liebe Grüsse

Sandro
 
Wie ich schon bei meiner Vorstellung schrieb, konnte ich bis dato meine Liebe zu Berlin im Gegensatz zu Hamburg oder Düsseldorf, nicht entfachen. Die Gründe habt Ihr beide wirklich treffend geschildert. Von Herzen nochmal Dank dafür.

Meine persönlichen Erfahrungen decken sich aber eine Spur eher mit denen von A.E.

In Berlin fehlt es vorallen an Kreativität und Stil.[...]

Also jetzt gehst du doch etwas zu weit ;) Berlin mag Stil-/Kleidungstechnisch nicht viel zu bieten haben - aber deshalb eine langweilige, unkreative Stadt?

Keinesfalls, wie ich finde. Sicherlich, das hanseatische Hamburg, das italienisch-bayerische München und das k.u.k.-zeitreisende-Wien sind aufregende, einzigartige Städte. Aber das ist Berlin auch, eben auf seine Weise. Nicht nur, dass mit der Politik, vielen Touristen und in feierlaune befindlichen entspannten Berlinern immer viel los ist in der Stadt (in der Nacht sind die S-Bahnen fast voller als am Tag - man vergleiche das mal mit München, wo man ab 23h kaum mehr eine offene Bar findet;).
Auch sonst hat Berlin viel zu bieten, viel aufregende moderne Architektur aber auch viele Altbauten (Prenzlauer Berg!), drei Opernhäuser, viele Theater, spannende Museen nicht nur auf der Museumsinsel, 12 (?) Sternerestaurants usw. Mir wird dort nie langweilig und ich genieße die Atmosphäre.

Ganz anders hingegen Düsseldorf, mit dem ich mich überhaupt nicht anfreunden kann ;) Damit verbinde ich eigentlich nur unfreundliche Menschen, Dekadenz, Langeweile. Zugestehen muss ich aber das relativ hohe bekleidungstechnische Niveau dort.

Mit der Freude an verschiedenen Geschmäckern grüßt
HansCastorp
(der sich übrigens drauf freut, schon bald für eine Woche das Kleidungstechnische Niveau Berlins anheben zu können...)
 
Hallo HansCastorp,

Was Du zu den Schönheiten der Stadt geschrieben hast, kann ich nicht wiedersprechen. Von den Gebäuden her ist Berlin wirklich schwer zu toppen und auch kulturell geht da schon einiges. Ich hatte 2008 eine tolle Abendveranstaltung im Hamburger Bahnhof, dem Museum für Moderne Kunst. In der Hinsicht gebe ich dir zu 100% Recht. Insofern sind unsere Geschmäcker nicht so verschieden. Ich persönlich habe nur die dumme Angewohnheit eine Stadt nicht nur nach Gebäuden oder Museen zu beurteilen, sondern auch nach den Menschen, die dort leben. Berlin kommt mir einwenig vor wie eine wunderschöne Frau, die aber leider überhaupt nichts in der Birne hat. Zugegebenermaßen keine schlechte Kombination für eine Nacht, aber für länger??? Insofern ist natürlich Berlin immer eine Reise wert, aber länger als 3 -4 Tage halte ich es nie aus. Und es hat gedauert, aber wir haben in München auch keine Sperrstunde mehr...:D lieber Spät als nie....:D

Liebe Grüsse

Sandro
 
Berlin kommt mir einwenig vor wie eine wunderschöne Frau, die aber leider überhaupt nichts in der Birne hat. Zugegebenermaßen keine schlechte Kombination für eine Nacht, aber für länger???

Also aus diesem Blickwinkel habe ich es bisher noch nie betrachtet ;) Ich werde in Berlin insbesondere auf diesen Blickwinkel achten und dir dann Anfang Mai antworten ;)
 
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