Hemd zur Probe

Keine Maßkleidung ohne Anprobe. Dieser Satz sollte in goldenen Lettern über dem Eingang von Schneidereien prangen. Denn die echte Anprobe, bei der das Kleidungsstück wirklich noch verändert wird oder wenigstens verändert werden könnte, unterscheidet die Handwerksarbeit ganz wesentlich von der industriellen Maßkonfektion. Ein Hemdenmacher der alten Schule nimmt bis zu 19 verschiedene Maße, notiert eventuelle Besonderheiten der Figur und hört aufmerksam zu, welche stilistischen Details gewünscht werden.

Sind alle Einzelheiten besprochen, wird in der Werkstatt ein Probierhemd aus hellem, neutralem Stoff, der sogenannten „toile“, angefertigt. Dessen Kragen wird aus dickem Papier zugeschnitten und an den Rumpf geheftet. Sobald die „toile“ bereit ist zur Anprobe, wird der Kunde schriftlich benachrichtigt. Klienten, die bereits Erfahrungen mit Maßhemden haben, werden von der guten Passform des Probierhemds beeindruckt sein. Was dem Kunden schon fast perfekt erscheint, stellt den Hemdenmacher in der Regel noch nicht zufrieden. Während er die technischen Aspekte des Hemds kontrolliert und gegebenenfalls verbessert, befragt er den Kunden nach seinen subjektiven Eindrücken. Wie fühlt sich das Hemd an? Gefällt es spontan? Sitzt der Kragen richtig? Entspricht die Kragenform dem gewünschten Look? Wenn nicht, wird der gewünschte Umriss mit Bleistift angezeichnet oder der Hemdenmacher schnippelt mit der Schere unerwünschte Konturen einfach weg. Erst wenn sämtliche Kritikpunkte genannt sind und der Mann mit dem Maßband die Änderungen, die er durchführen wird, erläutert hat, zieht der Kunde das Probierhemd aus, sein eigenes wieder an – und widmet sich der Stoffauswahl.

Nur ein Hemd, für das dieser Aufwand getrieben wird, darf sich „custom made“ oder „bespoke“ nennen. Alles andere ist Maßkonfektion, also „made to measure“. Der Unterschied sollte nicht unterschlagen werden. Nächste Woche: Das Sportsakko im Sommer.

Bernhard Roetzel

Bernhard Roetzel ist Stilexperte und Autor des Standardwerks „Der Gentleman. Handbuch der klassischen Herrenmode„. Im Stilmagazin veröffentlicht er wöchentlich eine Kolumne in der er sich Stilfragen und aktuellen Ereignissen widmet. Alle Artikel von Bernhard Roetzel.

Kategorie: Magazin

Bernhard Roetzel

Bernhard Roetzel schreibt über Herrenmode und verschiedene Stilfragen. Der Bildband "Der Gentleman. Handbuch der klassischen Herrenmode" ist seine bekannteste Publikation, sie liegt in fast 20 Übersetzungen vor.

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