Blickdicht

Seit in Berlin der Frühling ausgebrochen ist, kann man kaum noch einem Passanten in die Augen sehen. Selbst wenn sich der Himmel bewölkt, schützen sich die Flaneure ständig mit dunklen Gläsern vor den Blicken der Entgegenkommenden. Nicht mal in Einkaufspassagen, Fußgängertunneln, U-Bahn-Stationen oder in Geschäften setzen die Lichtscheuen ihre trendigen Nasenfahrräder ab.

Zugegeben: Mit Sonnenbrille sieht man cool aus und auch als Designobjekt hat sie ihren Reiz. Ich persönlich besitze ein halbes Dutzend Klassiker amerikanischer Provenienz, die Hälfte davon sind Vintage-Modelle aus den Achtzigern „Made in USA“. Gegen gleißendes Licht und schädliche UV- Strahlen sind sie ein wichtiger Schutz und in manchen Situationen auch absolut legitim, z. B. an einem Morgen nach einer zu kurzen Nacht. Sich ständig hinter getöntem Glas zu verschanzen, kann aber albern wirken. B- und C-Promis lieben es z. B., durch eisernes Sonnenbrillentragen ein wenig Aufmerksamkeit zu erheischen, nachahmenswert ist das nicht.

Als Brillenträger, der nur selten ein Auto bewegt, kann ich selbst bei hellem Sonnenschein die meiste Zeit auf das Accessoire verzichten. Zumal ich an hellen und heißen Tagen oft Hut trage, die Krempe spendet meinen Augen dann meistens genügend Schatten. Es scheint mir eine Sache der Gewohnheit zu sein, ob Sonnenlicht schnell als störend empfunden wird oder nicht. Sonnenbrillen sind insofern wie Fettstifte für die Lippen. Wer einmal damit anfängt, kann nur schwer wieder davon lassen. Dabei entstehen durch das schützende Zusammenkneifen der Augen herrlich charaktervolle Fältchen. Man muss sich nur mal Prinz Charles ansehen. Oder Clint Eastwood. Diese Krähenfüße machen ein Gesicht doch erst interessant. Nächste Woche: Blousons.

Kategorie: Magazin

Bernhard Roetzel

Bernhard Roetzel schreibt über Herrenmode und verschiedene Stilfragen. Der Bildband "Der Gentleman. Handbuch der klassischen Herrenmode" ist seine bekannteste Publikation, sie liegt in fast 20 Übersetzungen vor.

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