Marcel Reich-Ranicki ist tot.

Zum Beispiel?

Meinen Respekt hat er, aber ich sehe seine Wichtigkeit nicht. Für mich war er zuviel Selbstdarsteller.

Zu ersterem: In meinem konkreten Fall ziehe ich aus dem Roman Erkenntnisse über Prioritätensetzung zur Erreichung bestimmter Ziele. Man begleitet Ahab aus einer beobachtenden Perspektive und ist seinen Entscheidungen ausgesetzt, ohne direkten Einfluss auf die Geschehnisse zu haben. Versetzte ich mich also in die Figur Ahab hinterfrage ich meine Jagd nach dem Wal und die Methoden die dafür nötig sind. Wal und Jagd sind hier natürlich metaphorisch zu verstehen: Letztendlich ergeben sich daraus für mich die Fragen "was strebe ich an?", "sind meine Bemühungen angemessen?" und "wie Beeinflusse ich dabei mein direkt von mir abhängiges Umfeld?". Versetze ich mich dagegen in die Perspektive von Ishmael, dem Erzähler, hinterfrage ich die Konzepte "Schiksal" und "Machtlosigkeit", ind diesem Fall Machtlosigkeit gegenüber unausweichlichen Folgen.
Gesellschaftlich ließen sich beispielsweise die Beschreibungen von Menschen mit exotischer Herkunft und die Gleichsetzung von Kanibalismus und Homosexualität diskutieren. Es gibt jedoch noch einiges mehr: Jeder der den Roman kennt wird bestätigen können, dass die Diskussionsansätze hier endlos sind.

Unabhängig von der Person und der sicher sehr bewußt gewählten Selbstdarstellung ergibt sich die Wichtigkeit seines Wirkens aus der Kausalkette Literatur = wichtig, daher Personen die Literatur in der Öffentlichkeit ins Gespräch bringen = wichtig. MRR hat die Literaturkritik in Deutschland wie kein zweiter geprägt, daher = sehr wichtig. Wenn Du ihm also die Wichtigkeit absprichst, sprichst Du der Literatur, bzw deren Kritik, ihre Wichtigkeit ab.
 
Zuletzt bearbeitet:
Auf meine Lektüreauswahl und auf meine Urteile über Literatur hat er keinen Einfluss gehabt. Mir war er zu laut und seine Meinungen standen oft nur als Behauptung da, ohne eine Begründung, nach dem Motto: "Wenn ich, Marcel Reich Ranicki, das so sehe und sage, dann ist das auch so, da braucht es keine Begründung dazu." Aber er hatte Unterhaltungswert, er war nicht langweilig und hatte keine Angst, anzuecken. Und er war wirklich sehr belesen. Dafür Respekt.

Mein aufregendstes und auch schönstes Erlebnis mit ihm: Die Lektüre seiner Autobiografie "Mein Leben". Ein großartiger Text und ein stilistisches Vergnügen von hohen Graden. Wer so schreiben und erzählen kann, dem sei manche Eigenheit nachgesehen. Vor allem die erste Hälfte dieses Buches, welche die Zeit bis zum Kriegsende umspannt, ist atemberaubend, fesselnd, berührend und mehr als einmal stellt sich dabei ein beklommen machendes Kloß-im-Hals-Gefühl ein.
In der zweiten Hälfte des Buches, der Zeit nach dem Krieg, wo von seiner Entwicklung und seinem Wirken als Kritiker die Rede geht, schimmern dann zunehmend auch seine Eitelkeit und seine Egozentrik durch. Für deren Rechtfertigung sich im Buch - allerdings nicht auf ihn selbst gemünzt - ein wunderbarer Satz aus seiner Feder findet: "Ich habe noch nie einen Schriftsteller kennengelernt, der nicht eitel und nicht egozentrisch gewesen wäre - es sei denn, es war ein besonders schlechter Autor."

Interessant finde ich, sich Reich-Ranicki als Mode- und Stilkritiker vorzustellen, der hier im Forum im typischen Reich-Ranicki-Sound und -Duktus seine Urteile abgäbe, und seinen Daumen im WTIH-Thread mit der ihm eigenen Unerbittlichkeit, mit der er Texte adelte oder verriss, über den Outfits der Foristi heben oder senken würde. Keine besonders angenehme Vorstellung, der Gedanke, dem Meister zu missfallen wegen einer unpassenden Krawattenfarbe oder der falschen Hosenlänge ... Es gäbe wahrscheinlich das ein oder andere Massaker.

Zu einem anderen Punkt, der hier zur Sprache kam: Literatur liefert mir keine Handlungsempfehlungen, auch keine Rezepte für Prioritätensetzungen oder Erkenntnisgewinn quantifizierbarer Art (es sei denn, ich lese ein Kochbuch oder einen Bewerbungsratgeber).
Für das, was Literatur mir bedeutet oder was sie sonst vermag, findet sich ebenfalls eine treffende Sentenz in Reich-Ranickis "Mein Leben", ein Urteil, dass er dort über das Werk von Max Frisch geäußert hat:
"So können wir im Werk des europäischen Schriftstellers Max Frisch finden, was wir alle in der Literatur suchen: unsere Leiden. Oder auch: uns selber."
Mit freundlichen Grüßen
der rüganer
 
und seine Meinungen standen oft nur als Behauptung da, ohne eine Begründung, nach dem Motto: "Wenn ich, Marcel Reich Ranicki, das so sehe und sage, dann ist das auch so, da braucht es keine Begründung dazu."

Für Nietzsche ist das übrigens der typische Fehler der Jungend, den er auch gehabt habe. (In der Vorrede zu einer späteren Auflage seiner "Gerburt der Tragödie im Geiste der Musik", wenn ich mich recht erinnere)

In diesem Sinn wären die reinen Behauptungen sogar sehr sympathisch zu sehen, da sie aus einem jugendlich gebliebenen Geist entsprungen wären. Was ja im Grunde etwas Schönes ist.
 
Zu einem anderen Punkt, der hier zur Sprache kam: Literatur liefert mir keine Handlungsempfehlungen, auch keine Rezepte für Prioritätensetzungen oder Erkenntnisgewinn quantifizierbarer Art (es sei denn, ich lese ein Kochbuch oder einen Bewerbungsratgeber).

Sicher ist Literatur kein Ratgeber a la "Erfolgreich Prioritäten setzen für Dummies". Und mal die Diskussion was nun alles Literatur ist außen vor. Aber Literatur ist auch sehr eng mit Bildung verknüpft, damit, den geistigen Horizont zu erweitern, intellektuell beweglich zu werden/bleiben. Mit der Schulung des Sinnes für Ästhetik. Und das hat natürlich vielfältigen Nutzen. Ohne all das bleibt am Ende nur RTL2...
 
Lieber Abkanzler, das kommt davon, wenn man selektiv zitiert:

Passt schon. Die Aussage des ersten Teilsatzes wird durch das Weglassen des zweiten ja nicht verändert. Ich will dem Foristen zufällig hier nicht zu nahe treten, und es ist sein gutes Recht, keine literarischen Interessen zu hegen. Aber wenn man – fehlendes Interesse hin oder her – seine Leistungen im Fach Deutsch hervorhebt, erzielt man nun einmal einen komischen Effekt, wenn man sprachlich gleichzeitig so ins Klo greift. ;)
 
Er hat das Genie eines Menschen über den Charakter eines Menschen gestellt.
Auch bei sich selbst.
Und da waren wir grundlegend verschiedener Ansicht.

@Rüganer
+1

Wann und wo hat er das getan, und was genau können wir überhaupt über seinen Charakter wissen? Ich kann mich an eine derartige Aussage jedenfalls nicht erinnern und ich verstehe nicht so recht, warum einem gerade Verstorbenen hier in verschiedenen Kommentaren nahezu mit Gewalt Unangenehmes angedichtet wird.
 
Wahrscheinlich bin ich ein zuviel technisch denkender und zuwenig philosophischer Mensch, um Moby Dick zu lesen und daraus irgendetwas ableiten zu wollen.
Das ist eine heutzutage nicht untypische Haltung und ich empfinde - als technisch ausgebildeter und höchst interessierter Mensch - genau das als den großen Fehlschluß unserer Generation. Bildung wird heute fast ausschließlich unter einem kommerziell und technisch verwertbaren Aspekt betrachtet. "Warum soll ich mich mit so einem irrelevanten Kram beschäftigen?" Weil erst das einen zum Menschen macht, einem Wesen, das sich seiner eigenen (zeitlich begrenzten und recht zerbrechlichen) Existenz bewusst ist.

Alle technische und sonstwie vor allem auf berufliche Nutzbarkeit ausgerichtete Bildung ist für einen selbst sinnlos ohne die gleichzeitige Beschäftigung mit dem Menschsein an sich. Und Literatur ist eine besondere Erfahrung dabei, nicht zuletzt auch bzgl. Emotionalität und Selbstreflexion.
 
Oben