Der Artikel Sammelthread

Der Artikel war in der Tat recht einseitig, und gerade in diesem Medium wird ganz verstärkt in selbige Richtung geschrieben. Daß der Untergang des Anzuges von verschiedensten Seiten akklamiert wird, liegt, meiner Vermutung nach, daran, daß ein gut Teil der Akklamierenden noch keinen passenden, oder wohlansehnlichen (geschweige denn hochwertig verarbeiteten) Anzug zu tragen die Freude hatten. Die Ablehnung dem Anzuge gegenüber im linken politischen Spektrum, in welchem ich nach den gängigen Unterscheidungen wohl auch zu verorten wäre (ja, auch die taz, ein teils konservatives, teils vulgärlinkes Magazin) hat in seinem neuerlichen Ruf als Geschäfts- /Bureau-Kleidungsstück der Konservativen und Juristen, Bankiers etc. also Leuten, mit denen Linke gemeiniglich wenig assoziiert werden möchten, zu tun. Mir ist diese oberflächliche Ablehnung unverständlich, denn auch die sehr radikalen Linken des 19. und 20. Jhdts. haben natürlich Anzüge getragen. Daß man in seinem Kleidungsstil sich nach den Weisungen oder das Verhalten der Vorsitzenden und Kollegen zu richten habe, ist mir ebenfalls unverständlich und ein Zeichen mangelnder Selbstsicherheit. Wenn man einen Anzug tragen möchte, dann trägt man eben einen, gleich, ob Kollegen im Frack oder im Turnzeug auftreten.
 
Ich kann die ganze Diskussion nur schwer nachvollziehen. Die Tatsache, dass der Durchschnittsmann keinen Anzug mehr tragen muss, den er eh nie tragen wollte, sondern genötigt wurde zu tragen, empfinde ich als positiv.

In der Konsequenz bleiben diejenigen Anzugträger übrig, die das Kleidungsstück bewusst, sozusagen mit voller Absicht tragen. Das hebt die Qualität und macht aus den verbleibenden Herren im Anzug noch mehr etwas Besonderes. Ein gut oassender Anzug ist immer noch das Kleidungsstück, welches den Mann am vorteilhaftesten darstellt. Vor allem wenn man bedenkt, dass Frauen nachwievor gut gekleidete Männer zu schätzen wissen.

Don‘t worry - make the Difference !
 
Generell stimme ich Deiner ersten These voll zu. Das Problem ist aber eher, dass viele Männer, die eigentlich an sartorialer Kleidung interessiert sind, Angst haben, sie zu tragen, weil sie die Ablehnung ihrer Peers fürchten. Deutschland ist das Land der Angepassten. Das betrifft vermutlich vor allem unsere jüngeren Kollegen, aber der gefühlte Druck für sie, keine Anzüge, Krawatten, Sakkos tragen zu "dürfen", nimmt für sie mit jedem nicht mehr präsenten Anzug zu. Und das bedauere ich, weil ich sie mit einem einfachen Kopf hoch, gerade machen, angesichts dieses Umfeldeinflusses nicht mehr erreiche.

Wer schon immer so angezogen war wie wir, wird damit nicht aufhören, nur weil irgendeine gequälte Seele jetzt den verhassten Billiganzug in die Ecke wirft. Das ist auch an sich nicht schlimm. Aber Leute, die sich nur trauen zu tragen, was die anderen tragen, auch wenn sie eigentlich anders leben wollen, bleiben potenziell auf der Strecke.

Und natürlich hat das auch Folgen für den Gesamtmarkt. Schon jetzt haben wir doch schon Schwierigkeiten, einem Neuling einen gescheiten Laden in seiner Region zum Anprobieren vernünftiger Schuhe selbst einfacherer Qualität vorzuschlagen. Lass Dir die doch aus Schweden schicken oder fahr doch mal eben nach Montegranaro wirkt auf einen Einsteiger leicht neben der Spur. Daran haben wir uns nur schon längst gewöhnt und das wird nicht leichter werden.
 
Leider wahr, bluesman. Ich bin vermutlich einfach naiv, aber ich glaube daran, dass Anzüge nach einer Phase der Depression eine Renaissance erleben werden. Einfach weil es eine Möglichkeit sein wird, Individualität zu leben und zu zeigen.

Gestern war ich besonders, wenn ich lange Haare und Hoodie zwischen all den Anzugträgern getragen habe. Morgen ist das der Anzug. Klar, was ich präferiere ...

Was ich tatsächlich für weitgehend verloren ansehe, ist die Krawatte. Ihr Dasein wird noch trister sein, als das des Anzugs.
 
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Was ich tatsächlich für weitgehend verloren ansehe, ist die Krawatte. Ihr Dasein wird noch trister sein, als das des Anzugs.

Beim Anzug ohne Krawatte passen m. M. n. meistens die Formalitätsgrade nicht zusammen. Vor Corona habe ich das bei mir im Unternehmen häufig gesehen: Dunkelgrauer/-blauer Anzug, weißes/hellblaues Hemd, schwarze Schuhe, keine Krawatte. Sah aus wie Krawatte vergessen und auch ziemlich langweilig. Wenn ich auf die Krawatte verzichte, was ich auch häufig tue, dann keinen Anzug, sondern eine Kombination, mit der ich etwas Abwechslung ins Outfit bringe.
 
Das Einstecktuch ist eh‘ nie im Mainstream angekommen. Deswegen kann es auch nicht gefährdet sein, es war immer nur etwas für Kleidungsinteressierte.
 
Auch wenn der Artikel sich hauptsächlich auf die Damenmode bezieht, ist zwischen den Zeilen doch deutlich zu lesen, daß wohl auch mancher Mann sich diesen ästhetischen Kollateralschaden der Corona-Krise zum sartorialen Super-GAU gereichen läßt: https://sz.de/1.4991139.