Mit Maß im Geschäft

Maßkleidung und Geschäftsgarderobe gehören nicht zwingend zusammen. Dennoch lassen sich die meisten Männer vor allem Anzüge für das Büro anfertigen. Das ist auch eine sehr gute Idee, denn die Kleidung kann Kompetenz zwar nicht ersetzen, durchaus aber unterstreichen. Wer viel Ahnung von seinem Metier hat aber keine Ahnung von Kleidung zu haben scheint, wirkt insgesamt weniger kompetent als der gut gekleidete Meister seines Fachs.

Maßkleidung gibt es in mehreren Varianten. Die einfachste aber am wenigsten individuelle sind Einzelbestellungen in einem gewünschten Stoff in Standardgröße. Der Händler ordert also z. B. einen Anzug aus dunkelgrauem Flanell in der von Ihnen bevorzugten Größe. Er nimmt keine Maße und ändert Kleinigkeiten wie Bundweite oder Ärmellänge am fertigen Teil. Diese Variante ist narrensicher und optimal, wenn eine Normalgröße gut sitzt. Allerdings bieten nur wenige Hersteller diese Option an, dennoch lohnt die Frage danach.

Wesentlich individueller aber schon mit mehr Unsicherheiten behaftet ist Maßkonfektion. Auch hier ist der Ausgangspunkt eine Standardgröße, allerdings wird der Schnitt, der einer Figur am nächsten kommt, optimiert. Man geht also z. B. von einer Größe 52 aus und passt dann Brustumfang, Rückenbreite, Rückenlänge, Taillen- und Gesäßweite, Ärmellänge und (bei Hosen) Bundweite, Hosenlänge, Bein- und Fußweite an. In der Regel werden die Maße an einem Probierteil genommen und nicht direkt am Körper. Dies hilft, die Fehlinterpretation von am Körper ermittelten Messwerten zu vermeiden. Beispielsweise kann der Brustumfang des Körpers ganz unterschiedlich umgesetzt werden, je nach dem, ob die Jacke eng oder weit sitzen soll.

Das Maximum an Individualität bietet die handwerkliche Maßschneiderei. Zugleich ist sie aber auch mit dem größten Fehlerrisiko behaftet. Der Maßschneider konstruiert nämlich ein Schnittmuster für den Körper des Kunden, das dessen Maße und stilistische Wünsche berücksichtigt. Die Maße können aber in der Umsetzung je nach Geschmack des Schneiders und je nach dem Schnittsystem mehr oder weniger stark vom Wunsch des Kunden abweichen. Nehmen wir an, der Kunde bestellt einen Zweireiher mit drei Knopfpaaren, zwei geraden Seitentaschen mit Klappen sowie Hosen mit zwei Bundfalten und Aufschlägen. Der Schneider zückt das Maßband und konstruiert dann ein Modell. Bei der ersten Anprobe kann nun ein Supergau eintreten wenn der Zweireiher stilistisch überhaupt nicht dem entspricht, was der Kunde sich vorgestellt hat. Anders gesagt: Wenn Sie den eben skizzierten Anzug bei zehn Schneidern bestellen, werden Sie zehn grundverschiedene Kleidungsstücke bekommen. Schneiderarbeit empfiehlt sich deshalb nur, wenn man den Wunsch genau beschreiben kann, mit Worten oder noch besser mit Bildern. Und, wenn der Schneider geschmacklich und intellektuell in der Lage ist, den Wunsch zu verstehen und umzusetzen. Gute Schneider können das, schlechte Schneider verstehen nur Bahnhof oder ignorieren die Vision des Kunden.

Fazit: Konfektion wurde erfunden, um Kleidung günstiger herstellen zu können und sofort verfügbar zu machen. Und grundsätzlich ist gegen Konfektion auch nichts einzuwenden. Besser einen Anzug von der Stange, der gut sitzt und ordentlich industriell verarbeitet ist als eine teure Katastrophe aus dem Maßatelier. Die Suche nach dem Schneider, der einen versteht und dann auch noch gut arbeitet, ist fast so schwierig wie die Suche nach dem Lebenspartner. Aber hin und wieder klappt es ja. Und dann wird man tatsächlich glücklich.

Kategorie: Magazin

Bernhard Roetzel

Bernhard Roetzel schreibt über Herrenmode und verschiedene Stilfragen. Der Bildband "Der Gentleman. Handbuch der klassischen Herrenmode" ist seine bekannteste Publikation, sie liegt in fast 20 Übersetzungen vor.

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