Wir haben keine Chance ...

Als Südtiroler möchte ich da mal dazwischen grätschen. Ich wuchs am Land, aber in der Nähe zur – heute sehr italienisch geprägten– Landeshauptstadt Bozen auf. Wir deutschen Südtiroler sind ja nicht selten, ob wir das nun zugeben oder nicht, sehr traditionsbewusste Leute, dies haben wir durchaus mit den Italienern gemein. Gerade unsere ältere Generation gibt sich immer Mühe Sonntags entsprechend die Kirche zu besuchen und sich zu Festlichkeiten herauszuputzen. Selbstverständlich ist das in den meisten Fällen weit weg vom urbanen und hochsartorialen Stil des Forums, aber ich honoriere die Mühe, die sich die Leute offenbar geben um –und jetzt kommt das Zauberwort– angemessen gekleidet zu sein. Die Jugend kommt da den Alten nicht immer ganz nach, aber immerhin hat der Trachtentrend der letzten Jahre diesbezüglich doch einiges abgefedert.

Bozen selbst ist da in der Tat italienisch-urbaner, man merkt, dass auch im Alltag überlegt wird, wie man sich präsentiert. Dies ist auch mein Eindruck von eigentlich italienischen Städten. Blicke ich aber nun auf die Stadt meiner Alma mater, Innsbruck, so bietet sich ein gänzlich anderes Bild. Die Innsbrucker sind absolute Sportfanatiker und vergöttern quasi die praktische Sportmode. Mit Doppelreiher, Kombination, langem Mantel etc. pp. erntet man verständnislose Blicke en masse. Ähnlich verhält es sich auch in der Umgebung Innsbrucks, wobei dort an den Festtagen immerhin die Trachten das Auge erfreuen.

Als nunmehriger Neowiener bietet sich wiederum eine ganz andere – immens fragmentierte Welt. Der 1. Bezirk und einige der gesitteteren Bezirke innerhalb des Gürtels bieten immer wieder mal sehr erfreuliche modische Anblicke, auch der Herrenwelt. Andererseits gibt es hier aber auch diese neue auf das praktische fixierte Boheme, die ungefähr so individuell ist, wie ein McDonalds Burger. Und selbstverständlich merkt man in einer Stadt wie Wien auch die sozialen Unterschiede. Wobei so einfach ist das auch wiederum nicht, denn oft bin ich freudig erstaunt über den gepflegten Eindruck älterer türkischer oder nordafrikanischer Herren, die nicht selten einen krassen Gegensatz zu österreichischen "Herren" in Sandalen und einem "Irgendwie-Ensemble" bilden.

Nun, worauf kommt es also an? Ich glaube nicht, dass es effektiv der monetäre Aspekt ist, wenn auch dieser selbstverständlich sehr hilfreich sein kann - wobei ich diese Position eigentlich sofort widerrufen sollte, wenn ich mir unser "Prominenzprekariat" ins Gedächtnis rufe. Ich glaube aber vielmehr, dass das Bewusstsein angemessen gekleidet zu sein von größerer Bedeutung ist. Die Mitglieder dieses erlauchten Forums beschäftigen sich gerne mit Kleidung aus intrinsischer Freude heraus, die meisten Menschen auf der Straße pflegen dies nicht, oder nicht so intensiv zu tun und das ist auch vollkommen in Ordnung. Gänzlich unangebracht ist allerdings diese um sich greifende Mode, dass man auf Etikette, Protokoll und tradierte Normen pfeift. Jeder mag auf der Straße noch so verlottert rumrennen wie er mag, das sei ihm aus meiner Perspektive unbenommen, betritt er aber ein Gotteshaus oder noch schlimmer ein Theater, die Oper oder ein Museum, dann soll er sich den dort verewigten Genien entsprechend doch bitte einigermaßen Mühe geben sich angemessen und angenehm zu kleiden. Tragen wir einen lieben Freund zu Grabe, so kann man doch von jedem – und sei er noch so arm wie eine Kirchenmaus – verlangen sich dem Anlass entsprechend zu kleiden und die Jeans und Fleecejacke zuhause zu lassen. Selbiges gilt gleichermaßen für den Freudentag der Eheschließung. Und ich wiederhole, es sind oft nicht die Ärmsten die am unangenehmsten und unpassendsten auffallen, es sind durchaus meist jene die es sich eigentlich leisten könnten.

Aber um meinen viel zu langen Sermon zu beenden, beschließe ich selbigen mit einer Sentenz von Martin Mosebach, der die Angelegenheit viel treffender auf den Punkt bringt, als ich es je könnte:

„Ob ein Volk ein Kulturvolk ist, entscheidet sich daran, wie viele kulturelle Fähigkeiten die Armen dieses Volkes besitzen: wie viele Kenntnisse, das Leben kultisch in Form zu bringen. Solche Fähigkeiten sind zum Beispiel: einen Gast empfangen, ein Essen auf den Tisch stellen, ein Huhn tranchieren, die Messe dienen, wissen, in welcher Kleidung man eine Kirche betritt, mit Angehörigen anderer Klassen oder Nationen umzugehen, ein altes Lied singen zu können, eine Frau so anzusprechen, daß es ihr angenehm ist, auch wenn sie nicht darauf eingehen möchte, ein Fest zu feiern, einem Toten die Augen zuzudrücken.“
 
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Aber um meinen viel zu langen Sermon zu beenden, beschließe ich selbigen mit einer Sentenz von Martin Mosebach, der die Angelegenheit viel treffender auf den Punkt bringt, als ich es je könnte:

„Ob ein Volk ein Kulturvolk ist, entscheidet sich daran, wie viele kulturelle Fähigkeiten die Armen dieses Volkes besitzen: wie viele Kenntnisse, das Leben kultisch in Form zu bringen. Solche Fähigkeiten sind zum Beispiel: einen Gast empfangen, ein Essen auf den Tisch stellen, ein Huhn tranchieren, die Messe dienen, wissen, in welcher Kleidung man eine Kirche betritt, mit Angehörigen anderer Klassen oder Nationen umzugehen, ein altes Lied singen zu können, eine Frau so anzusprechen, daß es ihr angenehm ist, auch wenn sie nicht darauf eingehen möchte, ein Fest zu feiern, einem Toten die Augen zuzudrücken.“
Es ist natürlich in einem Forum wie diesem und in einem Thread wie diesem verführerisch, Mosebach zu zitieren. Wir sind hier bei dem Bedauern über den Verlust der Kleidungskultur ja alle, mich eingeschlossen, kleine Mosebachs in unserem Ausdruck von Sympathie für das unwiederbringlich Verlorene der sog. Guten Alten Zeit (tm). Wobei die gute alte Zeit für Mosebach eher vor der Französischen Revolution verortet wird ;) und ich im Gegenteil denke, dass es die gute alte Zeit nur als eine andere von Menschen geschaffene Hölle gab und dass die heutige ästhetisch-kulturelle Hölle vom Standpunkt der Menschheitsentwicklung eine in Summe deutlich erträglichere für deutlich mehr Menschen ist.

Mosebach liebäugelt wie alle Reaktionäre mit einem Weltbild, in dem einige wenige wissende Feudalherrschende zum eigenen Machterhalt klar definierte Rollen und Verhaltenskodizes für alle anderen zugewiesen haben. Das gab der Sache eine gewisse kulturelle Ordnung in allen Lebensbereichen, weil halt nicht allen erlaubt war, dabei mitzureden. Die bewunderte Zivilisiertheit gab es deswegen aber auch nur innerhalb dieser kleinen Oberschicht auf Kosten aller anderen und das Wohlwollen gegenüber der von oben oktroyierten Kultur der Armen, das Mosebach oben in Worte fasst (und das uns auch grundsätzlich attraktiv erscheint, weil wir den isolierten Wert dahinter verstehen), war historisch betrachtet schnell am Ende, wenn diese große Mehrheit der Armen, statt ihre vorgedachte Rolle gehorsam und gottesfürchtig auszufüllen, ihren gerechten Anteil am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben haben wollte.

Die Demokratisierung der Moderne fordert den Preis, dass viele Lebensdenkmuster, darunter natürlich auch kulturell völlig unreflektierte, ihren Platz haben, solange sie nicht menschenfeindlich sind und andere nicht unzulässig einschränken. Das ist die Definition von Freiheit. Und dieser umfassendere Kontext ist mir am Ende auch wichtiger als dass jeder weiß, wie und wo man einen ordentlichen Anzug trägt, auch wenn ich mir weiterhin vorbehalte, über die diesbezüglichen Defizite gepflegt zu jammern. ;)
 
Auch wenn nun schon seit zehn Tagen niemand mehr etwas in diesem Thread geschrieben hat, würde ich gerne nochmal meine Meinung dazu loswerden.
Sicherlich ist es für hiesige Forenmitglieder ein Augenschmauß, wenn jemand in einer klassischen Kombination mit ein wenig "Sprezzatura" die Straße herunterschlendert, die Hände vielleicht noch in der Hosentache, neben dem "Pfeil" (ist das wirklich der deutsche Begriff für das sartoriale "dart"?) und den zwei nach außen gerichteten Bundfalten. Dass das aber nicht jeder mag, sollte man dennoch respektieren, wo für mich aber wie bei vielen anderen die Grenze erreicht ist, ist natürlich bei den berüchtigten Adiletten (vielleicht sogar mit weißen Tennissocken) und der "baggy Shorts". Womit ich hingegen kein Problem habe, ist mit jemandem, der Stil hat, im nicht-sartorialem Sinn. Ein junger, schlanker Mann sollte vielleicht auf ein gut passendes T-Shirt und eine gut passende dunkelblaue Jeans zurückgreifen, wie einfach dieser sog. "Street Style" ist zeigt unter anderem der (deutsche) YouTube-Kanal One Dapper Street. Ein etwas älterer Herr sollte vielleicht eher ein Hemd und eine etwas weitere Cordhose kaufen. Das ist alles nicht mein Stil, und ich würde mich nie so anziehen wollen, es zeigt aber dennoch, dass man Wert darauf legt, nicht ungepflegt vor die Tür zu gehen und das ist in meinen Augen viel wichtiger, als dass sich jeder so anziehen muss wie auf der Pitti Uomo.
Und wenn wir schon bei der Pitti sind, auch dort gibt es Leute, die es einfach zu weit treiben, mit zuviel Armbändern am Knöchel oder wenn jeder seine Uhr über dem Hemdärmel trägt wirkt das auch nicht mehr mühelos, sondern einfach nur lächerlich.
Auf die goldenen 30er-Jahre schaue ich übrigens auch nicht gern zurück. Enge Hochwasserhosen und unstrukturierte taillierte Jacken "con rollino" oder "spalla camicia" gefallen mir außerordentlich gut.
 
Selber bin ich 22 Jahre alt und bin zum Teil sehr hin und hergerissen, was man auf der Arbeit tragen kann und was nicht.
Mein Stil entspricht nicht dem klassischen Forenfreund. Aber wenn hinter dem eigenen Rücken getuschelt wird, wenn man nur eine Stoffhose mit cardigan, Hemd und Sneakern trägt, dann hinterfragt man es. Insbesondere als junger Mann. Dadurch, dass ein Großteil der deutschen sehr versteift auf das Thema Mode guckt, wird alles abseits der eigenen Norm als falsch oder überheblich betrachtet.

Jedoch sieht es seitens des Forums oft nicht anders aus. Jeder der nicht der Foren“Norm“ entspricht, wird auch schnell abgewertet. Ich bin mir bewusst, dass eine Großzahl der Mitglieder mich angucken würde und sich denkt, wie zieht der sich an und anschließend würde hier über einen berichtet werden. Vielleicht fehlt einfach auf beiden Seiten die Offenheit für neue Entwicklungen. Wollt ihr wirklich einem 22-jährigem jungen Mann erzählen, dass er eher weite Hosen tragen soll und nur in rahmengenähten Oxfords rumlaufen soll?
Ich bin der Meinung man sollte Individualität durch seinen Stil ausdrücken, auch wenn es auf manche nonkonform wirkt.
Ein valider Punkt, der gelegentlich auch in den Diskussionen mit meinem Sohn (20) eine Rolle spielt, der zwar großes Interesse an guter Kleidung zeigt, sich mit meinem klassischen Stil aber nicht anfreunden mag.

Während der vorübergehenden Schließung des Forums diese Woche habe ich im amerikanischen Styleforum Asyl gesucht. Dort gibt es ein Unterforum „Street Style”.

Vielleicht besteht ja Interesse, etwas vergleichbares auch hier einzurichten, um die jüngere Generation abzuholen?

Etwas Diversität würde uns sicher gut tun.

Beste Grüße
R.O.T.
 
Ein bisschen ist man einfach auch Kind seiner Zeit. Mit 22 Jahren wird der Maßstab durch die altermäßige nächste Umgebung gesetzt, und im Moment sind enge Fits halt in Mode. In meiner Jugendzeit war es übrigens genau anders herum: Hochwasser, Karotte und hauteng waren die totale Stilsünde, weswegen ich heute noch trotz stilbezogener Aufgeklärtheit Probleme habe, zu lange und zu weite Hosen zu vermeiden.
 
Warum gefallen Dir diese Dinge besser als klassische Kleidungsstücke?
Genau kann ich es dir nicht sagen. Mit eng meinte ich jetzt aber auch nicht so eng, wie die Stoffhosen von Zara oder H&M, wo die Bügelfalte ja auch nur eingebügelt und nicht genäht. Außerdem gehen die ja meistens von der Hüfte aus runter, wo ich es abr lieber mag, wenn die Hosen von der Taille runtergehen, mit ein bisschen Platz um die Hüfte herum. Ab dem Knie sollte es dann aber schon etwas eng anliegender sein. Zu den unstrukturierten Sakkos: amerikanische und britische Schnitte wirken mir manchmal etwas... "formlos". Außerdem lässt sich doch der "Swagger" von einer neapolitanischen Jacke nicht abstreiten. Ein weiterer Grund ist wohl auch, dass die italienische Schneiderkultur einfach unglaublich faszinierend ist. Von Schneider zu Schneider, von Region zu Region, von Stadt zu Stadt gibt es Unterschiede. Fabio Attanasio zeigt das auf seinem Blog "The Bespoke Dudes" eigentlich ganz gut, wie ich finde.
 
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Fabio Attanasio zeigt das auf seinem Blog "The Bespoke Dudes" eigentlich ganz gut, wie ich finde.
Der trägt die Hosen relativ kurz, ist aber auch auf einer ziemlich klassischen Ebene, trägt in keiner Weise zu enge Kleidung. Das ist für mich so eine No-Go-Sache bei "junger" Mode.

Ich denke, wir sind da gar nicht weit auseinander, ich mag die italienische Art, sartoriale Kleidung zu tragen, auch lieber als die englische. Aus purer, ungezügelter Eitelkeit in diesem gegebenen Rahmen gut auszusehen ist mir wesentlich wichtiger als korrekt gekleidet zu sein, obwohl ich sicher unter den verbliebenen WTIH-Threadpostern einer der klassischsten Vertreter bin. Und ich habe sogar eine Bespoke Dudes Sonnenbrille (die ich lieber trage als meine Persols), klar mag ich, was der Typ trägt. ;)
 
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