Schönen guten Morgen in die Runde,
nachdem ich in diesem Thema aus gegebenem Anlass nun einige Zeit mitgelesen habe, möchte ich gerne meine Erfahrungen vom Wochenende teilen. Tatsächlich habe ich nach endlos langer Zeit meine Frau mit Engelszungen dazu überreden können, dass sie mit mir Puccini besucht. Ausschlaggebend war wohl das Argument, dass das Eleganteste aus dem Kleiderschrank mal wieder ausgeführt werden darf. Außerdem Mord, Verrat und Totschlag auf der Bühne
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Nungut, ich war selbst seit gefühlt 20 Jahren in keiner Oper mehr und hatte keine Vorstellung davon, was inzwischen getragen werden sollte und was nicht. Meine naiven Gedankengänge - Italienische Oper an einem Samstag um 19:00 Uhr, eine der ersten Aufführungen seit der Wiederaufnahme - haben mich, auch aufgrund der fehlenden Informationen zum Dresscode auf der Homepage, dazu verleitet, mal wieder dick aufzutragen und den Smoking zu entstauben. Meine Frau entsprechend in der langen Abendrobe mit Stola.
In der Tiefgarage ging es dann los mit den ersten typisch deutschen Starrerblicken (kennt Ihr sicher auch alle) und mein erster Gedanke: Verdammt, heillos overdressed. Ich hätte es mir fast denken können: Kennt Ihr diese Zwiebel-Darstellung (Männer links, Frauen rechts) der Altersverteilung in Deutschland von vor 150 oder 200 Jahren? Mit diesem gigantischen Bauch ganz unten wegen den vielen Kindern und wenigen Alten? So ähnlich war es an diesem Abend auch, die Stil-Hierarchie betreffend: Der Dirigent (im Cut), das Orchester und zwei Personen aus dem Publikum (also wir) ganz ganz oben und dann ging es steil abwärts und ein riesiger Bauch unterhalb von Business Casual, der die große Masse wiedergespiegelt hat. Wobei die Frauen deutlich viel besser angezogen waren als die Männer (!). Das traurige stilistische Ende der Hierarchie: Ein Mann mit fleckigem, ungebügeltem Kurzarm-Hemd über einem Longsleeve mit Oversize-Jeans und weißen Marken-Sneakern, ernsthaft?! Ich hätte wirklich nicht erwartet, dass man damit inzwischen Zugang in ein Opernhaus hat.
Wie dem auch sei, wie es angefangen hatte, so ging es weiter: Blicke.. teils bewundernd, teils verächtlich. Wobei meine anfängliche Unsicherheit mehr und mehr einem selbstsicheren Triumphieren wich. Insbesondere beim weiblichen Publikum hat unser Erscheinen doch für viel Bewunderung gesorgt. Meine beiden stilistischen Highlights an diesem Abend:
1. Zwei recht gut und dem Anlass angemessen gekleidete junge Frauen haben nach der Pause an der großen Treppe ziemlich offensichtlich gewartet (ich dachte ein "warte noch kurz" mit Blick in unsere Richtung vernommen zu haben), um mit uns gemeinsam die Treppe hochzugehen. Sehen und gesehen werden, gewissermaßen Promi-Vibes
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2. Während der Pause kam eine ältere Dame auf uns zu und hat in höchsten Tönen von uns geschwärmt, wir seien endlich das Publikum, dass sie in einer Abendveranstaltung in der Oper erwartet. Wie gerne würde Sie uns als Beispiel für die Besucher auf der Homepage oder im Theatermagazin sehen.
Wow, das ging natürlich runter wie Öl und bestätigte uns massiv in der Wahl unserer Outfits.
Nungut, es war ein toller Abend mit einer herrausragenden Aufführung und wir haben es nach anfänglicher Skepsis dann doch voll genießen können, im Kreis der Besucher für ordentlich Aufmerksamkeit zu sorgen.
Man sticht hervor und man polarisiert heutzutage mit Kleidung, die dem Anlass angemessen scheint. Es ist wohl wie 300-SL-Fahren: Vielleicht etwas angestaubt und an bessere Tage erinnernd, die Mehrzahl der Männer beneidet und hasst Dich, die Mehrzahl der Frauen liebt Dich. Das muss einem bewusst sein. Würde ich mich wieder mit Smoking in die Oper wagen? Am Wochenende zur Abendvorstellung auf jeden Fall, einer aus dem Publikum muss die Stil-Liga ja anführen! Für alle anderen Termine ist der dunkle Anzug mit Krawatte wohl doch völlig ausreichend. Für mich ist dem Anlass angemessene Kleidung, wie hier schon öfters angeklungen, auch ein Zeichen von Respekt gegenüber der Leistung des Dirigenten, der Musiker und dem gesamten Opernteam. Schade, dass diesbezüglich ein nicht kleiner Teil der Besucher inzwischen nur an sich selbst denkt, Hauptsache bequem.
Im Übrigen, zum Thema in einen Smoking investieren..
Ich habe mein Outfit mit Ausnahme der Socken (und Unterwäsche selbstverständlich) ausschließlich Second Hand in nahezu neuem Zustand zusammengekauft und insgesamt sicher weniger als die Schuhe des besagten Herrn mit Jeans bezahlt:
Wilvorst after six nachtblaue Smokingjacke mit Spitzrevers zu 12 €, dazugehörige Hose 40 €, Schleife und Kummerbund, je aus Seide von Stange Berlin zu 50 €, Jacques Britt Soiree Hemd a 8 €, hochglanzpolierte schwarze Loakes zu 60 €, vintage Manschettenknöpfe mit Halbedelstein 4 € und Einstecktuch aus weißer Seide 0,25 €.
Mit etwas Ausdauer und Hartnäckigkeit kann man ohne Probleme mit kleinem finanziellen Aufwand dem Rest der Besucher zeigen, wie es eigentlich geht.
Beste Grüße
Rheinblau, gelegentlich in nachtblau