Schnittsysteme

Sarto

Well-Known Member
Werte Herren,

nicht dass ich mir in nächster Zeit ein Bespoke Stück leisten könnte würde mich doch interessieren welche Schnittsysteme tatsächlich in Verwendung sind und ob das jeweilige Schnittsystem Auswirkungen auf die Form des Endprodukts hat oder ob es nur verschiedene Wege zum gleichen Ergebnis sind.

Natürlich arbeitet jeder Schneider mit seinem eigenen Stil und wenn mir seine Art einen Massanzug zu machen gefällt würde ich diesen auch von ihm machen lassen, darum geht es mir hier nicht.

Ich meine also wenn ein bestimmter Schneider zwei Anzüge mittels zwei verschiedenen Schnittsystemen schneidern würde würden sich diese wie unterscheiden?

Soweit ich weiss wird gerade in Deutschland und Österreich von vielen Schneidern das Müller & Sohn Schnittsystem verwendet bei dem auf Basis proportionaler Berechnungen gearbeitet wird, wobei die Hauptmasse am Körper gemessen werden und sodann die Hilfsmasse daraus errechnet werden.
Bei abweichenden Körperformen erfolgt die Schnittkonstruktion mittels modifizierten Proportionalregeln, wobei die Masse der Vorder- und der Rückenlänge proportional miteinander verglichen und aus dem Vergleichsmass die Körperhaltung bestimmt wird. Das kann aber noch nicht das grosse Geheimnis sein oder?

In der Schweiz existiert noch das Unicut System und in Deutschland das System Jansen/Rüdiger, über jene weiss ich gar nichts.

Besonders interessiert mich welche Systeme die italienischen Schneider für ihre in meinen laienhaften Augen überaus überzeugende Formen anwenden.

Hat sich damit bereits jemand auseinandergesetzt?

Sarto
 
Das Schnittsystem ist nur ein Schritt auf dem Weg, und nicht das wichtigste. Es ist durchaus moeglich, wenn fuer ein Anzug nicht sehr praktisch, ohne Schnittsystem zu arbeiten, wie es manchmal von Damenschneider gemacht wird. In dem fall wird der Stoff einfach ueber der Kunde drapiert und mit nadeln fixiert bis der richtige Form gefunden wuerde und dann fuers schneiden markiert.
Das System ist nur da um ein Startpunkt fuer der Schneiderarbeit zu geben. Viele meinen mit deren System ein bessere Startpunkt zu haben, aber fuer der Kunde ist nur der Endpunkt wichtig und der Endpunkt ist abhaengig davon ab wie gut der Schneider der Resultat sein System an der Kunde und seine Wunsche anpassen kann.
 
Schnittsysteme nur grobe Vorgabe

Ich sehe nicht, daß die Italienischen oder englischen Schnittsysteme genauer sind als Müller & Sohn. Jeder Schneider hat sein Grundsystem weiterentwickelt. Der letzendliche Schliff entsteht bei der Anprobe wobei es wichtig ist, daß der Sacco auf die Figur des Kunden gesteckt wird, was nicht jeder Schneider macht. Hosen werden durche das Schnittsystem eigentlich ganz gut.
Früher gab es viele Zuschneidesysteme, die wichtigsten waren Maurer in Berlin,
Lenassy, Zehntel Schnitt aus Nürnberg, Klemm Dresden existierte bereits in den 70er Jahren des 19. Jhdts.
Diese alten Schnittsysteme wurden nicht mehr weiterentwickelt und sind somit nicht an die heutige Mode angepasst.
 
Der Körper hat schnitttechnisch gesehen ganz genaue Stellpunkte, wie die Balance, Stellung der vorderen Halslochspitze, Bauchpunkt, Oberweiten- und Gesäßweitenzugaben, die man ziemlich genau mit der Messtechnik erfassen kann. In diesem Falle sollte man die verschiedenen Schnittsysteme übereinanderlegen können. Je nachdem, wie die Achselnaht verlegt wurde kann sich die Balance natürlich im Schnittmuster verschieben. Man kann Schnitttechnisch also schon ein außerordentlich passendes Sakko erreichen. Ältere Systeme beinhalten noch nicht das Verständnis der Balance und der richtigen Halslochspitzenstellung, das bekommt man dann mit der Anprobe gerichtet. Fehler in einem Schnittaufstellung werden gemacht, wenn man die Abweichungen der Proportionen vom Kunden nicht richtig erfasst. Da liegt das Problem. Das genaueste Schnittsystem ist das Müllersystem, wenn man es richtig beherrscht, das können aber nur noch sehr wenige. Wenn man einen Italienischen Anzugstil tragen will, sollte man auch zum Italienischen Schneider gehen. Die Italiener haben auch ihre eigenen Schnittsysteme, die haben eine andere Formgebung der geschweiften Seitentaillierung, der hinteren Ärmelnaht und Ärmelkugel. Das liegt dem älteren Herrenmaßschneider nicht so, denn nach deutschen Schneiderverständnis sieht das wie Murks aus. Deutsche Schneider machen eben gern solide, biedere, teure Businessanzüge. Die meisten deutschen Schnittsysteme haben sich nach 1945 am Müllersystem orientiert, sie sind also alle ähnlich korrekt. 1945 hat Mueller das System total umgekrempelt und besteht heute immer noch aus demselben Standard, nur eben weiterentwickelt. Die Hochphase des Schnittsystems war 1969 - 72 dann bis 1977 ausgebaut und danach ging’s permanent abwärts mit der Mode und auch mit dem System weil die Schneiderei ab den 80igern vergreiste und ausstarb.
 
Hallo Sarto,

meine Kollegen scheinen da schon gute und umfangreiche Antworten gegeben zu haben. Dem ist kaum noch etwas hinzuzufügen, außer der momentane Zustand. In Deutschland werden meines Wissens nur noch in vier deutschen Städten Herrenschneidermeister ausgebildet und/oder geprüft. Düsseldorf, München, Hamburg und seit neustem auch Dresden. Über Dresden und München kann ich nicht viel sagen, da ich niemanden kenne, der dort seinen Meister im Herrenschneiderhandwerk abgelegt. Ich vermute aber, daß dort auch das Müller&Sohn- Schnittsystem unterrichtet wird. In Hamburg kommen die Meisterprüflinge von der JAK (eine Privatschule mit industriellem Schwerpunkt) oder von der Gewandmeisterschule. In der Gewandmeisterschule wird das Schnittsystem von dem Dozenten Garvier (oder Garvette?) unterrichtet. In Düsseldorf weiß ich es aber ganz genau: dort unterrichtet der Schulleiter der Schnittschule Müller&Sohn (Hr. Köhler) persönlich. Im Grunde liefern alle Schnittsysteme nur ein Grundgerüst für den späteren Zuschnitt. Maßgebend für die Passform und Gestaltung sind im Endetffekt das Maßnehmen, die Interpretation von Maßen und figürlichen Abweichungen, die Anproben und letztendlich auch der Geschmack. Wenn Du Dich ein wenig einlesen willst, wie führende, deutsche Herrenmaßschneider das Schnittsystem für sich weiterentwickelt haben, dann empfehle ich dir "Der Meisterschneider" .
http://www.muellersohn.com/rundscha...terschneider---schnittkonstruktionen-haka,50/

Ich hoffe, daß ich Dir ein wenig Auskunft geben konnte.
 
Als einer der letzten Mitarbeiter der letzten Ost-Deutschen Zuschneideschule kenne ich mich ganz gut mit der Ost-Deutschen Schnittentwicklung aus. Das Müllersystem ist in der Tat eine Art komfortables Grundgerüst welches durch Abkniffungen am Saumrand und ohne Überschulterberechnung zusammengebracht wurde. Auch die Ärmelberechnung des Müllersystems ist bis heute fraglich. Der Fachbeirat der DDR, das waren eine Handvoll systemtreue Schneidermeister, hatte das Müllersystem seit 1960 kontinuierlich weiterentwickelt und war dem Müllersystem technisch immer um die 5 Jahre im Voraus. Ab 1980 wurde das DDR System uneinholbar, da die Schneiderei in Westdeutschland dem Untergang geweiht war. In der DDR aber war das Schneiderhandwerk bis zur Wende immer noch sehr lebendig und es wurde entwickelt wie in alten Zeiten. Nach der Wende lag auch im Osten das Schneiderhandwerk am Boden. Die wichtigsten Zuschneideschulen im Osten waren Fachbeirat/Modeinstitut, Hans Mayer, Kurt Czujewicz. Das Buch Meisterschneider ist bestens zu Empfehlen, da man dort die Tricks moderner Verarbeitung und Geheimnisse des Zuschnitts finden kann. Diese Geheimnisse sind aber inmitten vieler Fehler nur von Eingeweihten zu erkennen. Soweit wie ich das mit den Rundschauen vergleichen kann hatte ich an der Max Dietl Konstruktion kaum was auszusetzen. Ich habe nur die kompletten Rundschauen von 1967 – 79 und 1999 – 2005 und natürlich sämtliche Rundschaubücher von Auflage 11 – 17. Das neue Meisterschneiderbuch habe ich leider nicht. Ich würde gern mal sehen, wie der Arnulf die Sakko-Grundkonstruktion berechnet. Ob der nicht vielleicht Max Dietl noch übertrift. Ich weiß es nicht. Übrigens, von den 20 Schneidermeistern die jährlich in DE ausgebildet werden sind nur ganz wenige so gut, dass sie sich selbstständig machen könnten, hat mir mal jemand gesteckt, der es wusste…
 
Übrigens, von den 20 Schneidermeistern die jährlich in DE ausgebildet werden sind nur ganz wenige so gut, dass sie sich selbstständig machen könnten, hat mir mal jemand gesteckt, der es wusste…

Diese Information muss aber schon veraltet sein. In diesem Jahr haben in Hamburg und Düsseldorf insgesamt nur 2 Herrenschneidermeister ihren Abschluß gemacht. Ich wäre sehr überrascht, wenn München und Dresden 18 Herrenschneidermeistern ihren Brief verliehen hätten, wenn Düsseldorf die größte der genannten Schulen ist.
 
Das war wohl 2010. Ich will nur sagen, dass, wenn man einen Meisterbrief hat, es nicht heist, man koennte einen super Anzug herstellen. Vielleicht sehe ich das auch falsch, denn so schwer ist die Schneiderei eigentlich gar nicht.
 
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