bluesman528
Ruhrpotthanseat
Ich bin im Gegenteil der Ansicht, dass sich der Gentleman nicht daran festmacht, wie er sich benimmt, sondern wie er sich verhält. Das ist gelegentlich das gleiche, aber eben längst nicht immer.- Seit wann sind Schauspieler / Prominente / Politiker / sonstige "Sternchen" ein Indiz dafür, wie man sich zu kleiden / benehmen hat? Ich bitte Euch. Nur weniger aus dieser Gruppe genügen dem Maßstab, der hier im Forum an einen Gentleman gestellt wird. Oder ist das ganze Kleidungs-Gehabe dieses Stilforums etwa nicht Ausdruck einer Denkhaltung, sondern nur egozentrisches Ausstaffieren mit den Kleidern und Effekten einer geschmackvollen Vergangenheit in der Hoffnung, der Glanz vergangener Zeiten mögen auf den Träger abfärben und Schwächen im Benehmen überstrahlen? Dafür reichen ein Modemagazin und eine Kreditkarte.
- Dass wir in der breiten Masse der Menschen einige finden, die mit offenem Mund essen, schwarze Anzüge im Büro tragen, silikonhaltige Schuhglanzstifte verwenden, die Krawatte zu kurz binden, Frauen nicht in den Mantel helfen, die Hände beim Sprechen in den Taschen verbergen und allgemein skeptisch sind gegenüber hohen Maßstäben an gentleman-artiges Verhalten, ist mit Sicherheit bittere Realität. Aber ist es die Realität, die wir wollen? Weshalb wird plötzlich auf die Realität verwiesen, nur weil man sich mal an einem höheren Maßstab messen soll? Bei allen anderen Themen werden doch auch hohe Maßstäbe gesetzt. Weshalb nicht bei diesem? Mein Eindruck ist, dass sich hier User sammeln, die Vorbilder für ihre Generation sein wollen.
[...]
Wenn wir alle an unseren Gewohnheiten festhalten, nur weil sie uns so bequem sind, ist das kein Fortschritt.
Warum steckt denn so gut wie jeder die Hand überhaupt mal in die Hosentasche? Um jemand anders zu brüskieren? Nein, weil es eine von vielen natürlichen, einer bequemeren Haltung beim längeren Stehen dienenden Körperhaltungen ist. Wie die Hand auf die Hüfte zu legen oder sie hinter dem Körper zu verschränken oder analog dem Übereinanderschlagen der Beine beim Sitzen. Sich dessen zwanghaft zu entsagen, weil sich irgendwer mal vor ewigen Zeiten beleidigt fühlte, dass ein Untergebener/Pächter/untergeordneter Soldat mit der Hand in der Hosentasche eben nicht strammstehend die Hand an die Mütze legen konnte und ihm so nicht den ihm nach seiner Meinung zustehenden Respekt entgegen brachte, ist für mich genau das, was einen Gentleman und ein Vorbild nicht ausmacht: das starre Befolgen einer willkürlichen Regel einer alten Klassengesellschaft aus historischen Gründen (und dazu noch in einem kulturell eng umgrenzten Raum, nämlich dem deutschsprachigen).
Dass man bei einem Vortrag, öffentlichen Auftritt oder auch nur einem Kennenlernen seinem Publikum/Gegenüber aufmerksam und konzentriert gegenüber tritt, ist doch selbstverständlich. Das hat dann auch mit Spannung statt mit Entspannung zu tun, die automatisch eine andere Körpersprache mit sich bringt.
In einer Entspannungsphase bei einem Pausenespresso in der Ecke ist aber das angespannte Stehen mit dem berühmten Ladestock im Kreuz und der Hand an der Hosennaht einfach aufgesetzt, unnatürlich und damit letzten Endes auch verkrampft und unsympathisch, es schafft durch die Künstlichkeit Distanz. Ein Gentleman zeichnet sich auch darin aus, dass sein Umfeld sich in seiner Gesellschaft wohlfühlt, dadurch dass man ihn nicht als gefühlsreduzierten, regelprogrammierten Roboter in kammgarnbewollter Rüstung, sondern als freundlichen, zugänglichen Menschen wahrnimmt. Und ein Vorbild vermeidet nicht künstlich, was offensichtlich natürlich ist, das befremdet alle, die davon lernen sollen, und zerstört am Ende die wichtigen Botschaften, die wirklich mit Werten und nicht mit Äußerlichkeiten zu tun haben. Wir haben heute ohnehin schon viel zu viel damit zu kämpfen, dass der Wunsch nach Anstand, Eleganz und Ästhetik im öffentlichen Leben mit der künstlich ritualisierten Großtuerei einer verhassten, auf dem Rücken der arbeitenden Mehrheit feiernden Aristokratie gleich gesetzt wird, die es in Deutschland eben historisch viel länger gegeben hat als in Frankreich oder England.
Dass man eine bestimmte Körpersprache vermeidet, um Wirkungen im Auftritt zu erzielen, hat damit nichts zu tun. Das ist reine Schauspielerei, wo es nicht um Wahrheit oder Werte geht, sondern nur um eine gute Vorstellung.