Also wenn man an den Dogmen festhalten möchte, mag das ja alles stimmen.
Heute spielen sicherlich Laune, Gefallen, Zufall und die Möglichkeit von kombinieren eine größere Rolle bei der Wahl zwischen Streifen und "Bilderchen" als die Frage ob es heute mal militärische Streifen oder proletarische Blumen sein soll^^

Das dies alles weder was mit Einkünfte noch mit Gesellschaft zu tun, finde ich auch.
 
Ich würde ganz stark widersprechen, dass das Straßenbild in den 1950er Jahren nicht besser war. Da man damals entweder direkt zum Maßschneider ging oder wenigstens bei einem Herrenausstatter einkaufte, bei dem die Leute wenigstens minimal etwas von Passform und Stil verstanden und auch die nötigen Änderungen meist vor Ort abgesteckt wurden, gab es die Totalausfälle bei der Passform, die heute die Regel sind, viel seltener. Dazu kommt, dass die Konfektion auch generell weiter geschnitten war, was sich im Durchschnitt vorteilhafter auswirkt, da zu weite Sachen a) an sich schon weniger schlimm aussehen als zu enge, wenn es sich nicht gerade um 80er Jahre Schulterpolsterklamotten handelt, und sie b) auch leichter zu ändern sind als umgekehrt.
Wie das Straßenbild der 50er Jahre aussah, dürfte kaum jemand hier beurteilen können. Damals wurde ja nicht jeder Mist ständig mal schnell mit dem Handy fotografiert und von Webcam-Streams hat man nicht mal geträumt. Insbesondere eigene Familienfotos sind da eine unsichere Quelle, da man sich auch seinerzeit in der Regel noch halbwegs hergerichtet hat, bevor man sich fotografieren ließ. (Meine Mutter hat in den 70er Jahren noch dafür gesorgt, dass ich was hübsches anhabe, wenn man mal ein paar "schöne Fotos" machen wollte. Generation Automatikkamera-Schnappschuss fing da grade erst an. Von den 20er Jahren wollen wir mal gar nicht reden.

Außerdem dürfte da auch ein bias drin sein, da "besser gestellte" Leute vermutlich häufiger fotografiert wurden und der gesellschaftliche Status öfter fotografiert zu werden, dürfte in gewissem Umfang mit besserer Kleidung korrelieren.

Die wenigen Wochenschau Bilder, die wirklich authentische "Atmo" der 50er haben, zeigen mE eher das, was bluesman sagt. Leute, die nach Konvention gekleidet sind, deswegen aber nicht gut gekleidet sind. Als jemand, der in einer Anzugpflichtbranche arbeitet, würde ich sagen, dass eine Vielzahl von Menschen bei uns auch formal korrekt gekleidet sind, hier aber gnadenlos verrissen würden (Passform, Ärmellängen, Schuhe, Kaufhauskrawatten, Knoten, Billighemden, you name it).
 
Jetzt sprichst Du aber von den 1930er Jahren und nicht von mehr von den 50ern.
Die relative Armut der Arbeiter in Industrie und Handwerk ging erst in den 1970er Jahren mit substanziellen Lohnerhöhungen zurück. In den 50er Jahren gab es Wohnungsknappheit durch zerbombte Städte und Minimallöhne bei 48-Stunden-Woche inkl. Samstagsarbeit. Wer dachte da wohl an Maßanzüge? Mein Dad erzählte mir gerne die Anekdote, dass er mit einem neuen Anzug in einen Regenguss kam und dann bemerken musste, dass die Einlagen aus Pappe gefertigt waren. :) Das waren die sartorial glorreichen 1950er Jahre in der Mitte der damaligen Gesellschaft.

Mein Dad (Jahrgang 32) war erst ab Ende der 1980er am untersten Rand der Forumskompatibilität angezogen (geklebte Ware, mäßige Passform, gute Stoffe). Und damit war er in seinem (Ingenieurs-)Umfeld weit vorn.
 
Wir reden aber nach wie vor über den Vergleich des durchschnittlichen Straßenbilds damals und heute und nicht darüber, ob damals jeder stilvoll gekleidet war, was natürlich nicht der Fall war.

Da Bessergestellte eben auch zum Straßenbild gehören und das nun auch nicht nur ein paar Hundert Leute waren, ist das doch schonmal ein Pluspunkt für damals. Geht man ferner davon aus, dass gewisse Totalausfälle (Shorts, Sandalen, T-Shirts, eckige Schuhe) nicht existierten, weil es sie entweder gar nicht gab oder sie eben durch gesellschaftliche Konvention de facto verboten waren, ergibt sich der Rest dann schon.

Wenn wir davon reden, dass jemand damals nicht den Forenstandards genügt hätte, reden wir ja nun nicht von Wilvorstanzug aus Polyester mit goldgelber Krawatte und grünen Sneakers, sondern von gewissen Passformschwächen oder suboptimalen Kombinationen. Besonders schrille Kleidung wurde damals einfach generell selten toleriert, ob sie nun gut ausgeführt war oder nicht, und dadurch sind die übelsten Ergebnisse, die man heute sieht, einfach von Vornherein ausgeschlossen gewesen.

Die meisten Leute werden einfach am ehesten "langweilige" graue Flanellanzüge mit einfarbiger Krawatte, weißem Hemd und schwarzen Oxfords getragen haben.
Selbst wenn dann mal die Schulter etwas zu weit ist, die Krawatte zu kurz angebunden oder der Schuh abgetragen, ist das einfach kein Vergleich zu heute.

Ich kenne übrigens nicht nur Bilder bekannter Leute, sondern auch sehr viele Bilder aus Vintageforen, die teilweise auch aus den Familienarchiven der Nutzer stammen, und diese belegen alle meinen Eindruck.
Den Einwand, dass man sich nur für das Bild zurecht gemacht hätte, finde ich nicht sonderlich schlüssig. Wenn man sich nun dafür überhaupt so zurecht machen konnte, heißt das doch, dass man die Kleidungsstücke auch besass und auch wusste, wie man sie grundsätzlich verwenden muss. Kleidung für "besondere Anlässe" hatten die meisten damals nichtmal unbedingt, so dass man davon ausgehen kann, dass das recht nah am Alltag zumindest der Leute auf den Fotos ist.
 
Die meisten Leute werden einfach am ehesten "langweilige" graue Flanellanzüge mit einfarbiger Krawatte, weißem Hemd und schwarzen Oxfords getragen haben.
Selbst wenn dann mal die Schulter etwas zu weit ist, die Krawatte zu kurz angebunden oder der Schuh abgetragen, ist das einfach kein Vergleich zu heute.
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Genau dies widerlegten mir mindestens zwei Dutzend Kunden im Alter von 85-102Jahre. Wie höre ich immer wieder "nur weil es oft schwarz/weiß Aufnahmen sind, war nicht alles schwarz/weiß!" :)

"Die meisten Leute" werden irgendwelche Stoffhosen getragen haben und nicht mehr so ganz einwandfreie Hemde bei denen der Kragen irgendwann getauscht wurde in der zweiten Generation ...
Wenn wir von den gutbetuchten Leuten reden, die mit Hut und Stock flanierend durch die Stadt zogen, wären wohl sehr viele Klassikliebhaber entsetzt was das Farbenfrohe angeht. Wir hatten das an anderer Stelle schon mal, als ältere Kunden immer wieder bei den buntestens Krawatten sowas wie "ach wie damals" sagten, habe ich völlig irritiert recht viele Leute darauf mal angesprochen.
Resultat: in der feinen Herrenmode ging es schon immer sehr farbenfroh zu! Und wie es sich gehört, schimpften auch damals die Väter und Großväter über die jungen Männer was die Mode angeht :)

Das was wir heute als Klassik und respektive *richtig* ansehen, war damals sicherlich nicht "typisch" ;)
Da ich diese Zeiten nicht erlebt habe, kann ich natürlich auch nur die Erzählungen weiter geben. Daher ohne Gewähr
 
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Ich hatte jetzt an das alltägliche Berufsleben gedacht - hatten die Kunden davon gesprochen oder einfach von Krawatten allgemein? Dass es damals auch farbenfrohere gab, etwa die 1940er Art Deco Krawatten, war mir schon bekannt.
 
Ich hatte jetzt an das alltägliche Berufsleben gedacht - hatten die Kunden davon gesprochen oder einfach von Krawatten allgemein? Dass es damals auch farbenfrohere gab, etwa die 1940er Art Deco Krawatten, war mir schon bekannt.
Mmh. Ich gehe jetzt stark davon aus, dass sie allgemein meinten mit klarer Tendenz hin zum privaten. Beruflich wird es ähnlich standardisierte Situation gewesen sein wie heute ...vielleicht hat da aber damals die Krawatte an sich mehr Bedeutung gehabt als das was darauf zu sehen ist.
 
Ich freue mich, eine absolute Rarität präsentieren zu dürfen:
die sog. 'Muster-Motiv-Krawatte'!

Dieses Exemplar stammt vom Herrenausstatter Braun in Hamburg und kombiniert sartorial-sympathisch einige forenkonsensuelle Muster mit niedlicher Schildkrötenpanzerigkeit -
möglicherweise inspiriert von 'Kassiopeia' in Michael Endes 'Momo', wächst hier vermutlich das Beste aus zwei Welten zusammen, was nicht zusammengehört...
 

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Wobei man dazu sagen darf, dass in den 50ern, 50ern, 70ern gerade auch die vermeintliche Oberschicht jeden, Entschuldigung, Scheiß mitgemacht hat.

Damals war Kunststoff teilweise besser angesehen als Naturfasern. Neonfarbene Minikleider der 60er, übelste Karomuster der 50er, dann riesige Blumenmuster und am besten noch Schlaghosen in den 70ern. Greulich. Aber die damaligen Hipster standen auf den Schrott ebenso wie die heutigen Markenfetischisten auf Camp David, La Martina, Gucci oder andere Litfaßsäulen.

Also, bei Motivkrawatten bin ich nach Lust und Laune unterwegs. Ob jemand nen Herzkasper bekommt oder nicht, mir egal. Es darf aber auch ruhig dezenter sein, wenn mir danach ist (kommt prozentual häufiger vor, also deutliche Entwarnung):).

Und ehrlich, bevor ich mir so nen Altherrentraum mit platten Südseemotiven, Früchtekorb oder Zoobesuch von Hermes um den Hals hänge, lieber ne Vulcan ;).
 
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