Ich stelle erleichtert fest dass ich offenbar in einem anderen Land lebe, muss mal Google Maps fragen wo ich bin. Ich erlebe eher freundliche bis amüsierte Gleichgültigkeit in Bezug auf meine Kleidung, und sicher nicht mehr missbilligend gehobene Augenbrauen als ich selbst verteile - ich habe meine Stirnmuskeln gut unter Kontrolle. Ich empfinde mich nicht verfolgt oder verachtet ob meiner Kleidung, aber vielleicht bin ich für diese typisch deutsche Opferrollenhaltung einfach nicht deutsch genug.
Was heißt Opferrolle?
Ich komme ja nun in einer relativ unsartorialen Umgebung, die Dir ja selbst tendenziell nicht unbekannt ist, beruflich großartig mit meiner Vorliebe zurecht. Aber es ist da draußen in den weniger glamourösen Innenstädten (also ganz Deutschland außer Hamburg, Düsseldorf, evtl. Frankfurt und München) relativ offensichtlich, dass man von nicht wenigen Passanten erst mal in Anzug und Krawatte merkwürdig angeschaut wird. Das sind in erster Linie die Leute, die sich, nach ihrem Äußeren zu urteilen, vorgeblich am wenigsten für Kleidung interessieren. Natürlich kümmert mich das nicht, aber von abstraktem Interesse ist das ja schon. Dafür bietet proteus' Erklärungsversuch eine gute Hypothese.
Was das overdressen angeht, anders als hier Konsens (ok: Mehrheitsmeinung) zu sein scheint und auch von mir oft genug gelebt wird: das gibt es wirklich. Die Mehrheit setzt den Standard, auch wenn's einem selber nicht gefällt.
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Wenn man überall nur Geisterfahrer sieht kann es sein dass man alleine die StVO korrekt umsetzt. Oder dass man die Umstellung auf Linksverkehr verpasst hat. In beiden Fällen ist das Wechseln der Straßenseite dem Überleben förderlich.
Erst mal ging es um die Abwesenheit von vorgegebenen Dresscodes von Gastgebern wie Beethoven schon angemerkt hat.
Und dann sprechen wir zum wiederholten Male von gesellschaftlich völlig akzeptierter Kleidung, die man tendenziell überall kaufen kann und in der geliebten Glotze jeder täglich sehen kann. Also warum kommt dann jemand auf die Idee, er wäre damit irgendwo in einem urbanen Umfeld overdressed und sein Überleben hinge davon ab, die kleidungsbezogene Straßenseite zu wechseln?
Die Mehrheit mag immer einen Standard auf niedrigem Niveau setzen, aber Freiheit besteht darin, selbst unabhängig von solchen Zwängen zu bestimmen, wie man sich verhalten möchte. Anpassung ist immer der Weg der Mutlosen, der willentlich Fremdbestimmten und der Desinteressierten. Und die Proklamation, man müsse sich anpassen, noch dazu bei einem so persönlichen Thema, weil das angeblich besser für einen sei, markiert halt auch das Ende der Freiheit auf einem ebenso subtilen wie persönlich tiefreichenden Level.
Ist eine solche Haltung in dieser Sache nicht eines Forums wie dem unseren unwürdig? Wer, wenn nicht wir, soll denn Interessierten einen Weg weisen, wie man mit einem Kleidungsinteresse im Alltag souverän umgeht, ohne sich selbst zu verleugnen? "Am besten nur vor dem Spiegel im Keller tragen für die wichtigen WTIH-Selfies und ansonsten schön unauffällig unter dem öffentlichen Jeans&T-Shirt-Radar bleiben, weil sonst hat einen keiner mehr lieb" finde ich da unzureichend (sowie sachlich falsch). Und sich schön zu reden, dass mit den lautesten Wölfen zu heulen die stilsichere Alternative des wahren Gentleman ist, finde ich fast schon peinlich. Der einfachste Weg ist es sicherlich, das würde ich nie bestreiten.