Ich glaube der Bedarf ist in Deutschland schlicht und ergreifend nicht vorhanden. Seien wir mal ehrlich: Wer braucht Maßkleidung? Von brauchen kann im engeren Sinne ja nur bei denen die Rede sein, die aufgrund von stark abweichenden Körpermaßen partout nicht mit Kleidung von der Stange plus Änderungen oder Maßkonfektion klarkommen und gleichzeitig auf entsprechende Kleidung angewiesen sind. Damit ist der Kreis schon sehr, sehr klein. Und diejenigen, die diesem kleinen Kreis angehören, müssen es sich dann auch noch leisten können. Somit wird die Zahl derjenigen, die Maßkleidung brauchen und die entsprechenden Dienste auch in Anspruch nehmen (können) verschwindend gering.
Es bleiben noch diejenigen, die Maßkleidung zwar nicht aus oben genannten Gründen brauchen, aber dennoch schätzen und bereit sind, entsprechend Geld in die Hand zu nehmen. In einer Gesellschaft, in der Kleidungskultur generell nicht hoch geschätzt wird, im Gegenteil, zu gut gekleideten Menschen sehr schnell das Etikett oberflächlich, verschwenderisch oder arrogant, im Falle von Politikern und Wirtschaftsbossen auch gern abgehoben oder volksfremd angeheftet wird und in der Neid auf alle Bessergestellten an der Tagesordnung ist, wird die intensive Beschäftigung mit guter und teurer Kleidung zum Hobby von einigen Wenigen. Zumal wenn man bedenkt, dass man schon mit Maßkonfektion zu einer Minderheit im Straßenbild gehört und es nicht schwer sein dürfte im beruflichen oder gesellschaftlichen Umfeld zu den Bestgekleideten zu gehören. Insofern wird der Schritt zur Maßschneiderei zu einer sehr persönlichen, in gewissen Sinne selbstverliebten Angelegenheit, von der die meisten, mit denen man in Kontakt kommt, weder die Notwendigkeit noch den Nutzen erkennen.
Ein Beispiel sind die einschlägigen Internetforen, in denen überall nur ein ganz kleiner Kern der immer selben Leute Kleidung, Stil und Maßschneiderei als das Nonplusultra betrachtet. Man sollte fairerweise aber auch bedenken, dass die allermeisten mit wirklich guten Stil und den entsprechenden finanziellen Mitteln, sich niemals an diesen Internetplattformen beteiligen, sei es, weil sie es nicht nötig haben, Ratschläge zu empfangen, sei es weil sie weit bessere Möglichkeiten besitzen, ihren Stil zu kommunizieren oder sei es schlicht, weil sie das leider immer präsente "circle jerking" der immer gleichen Leute schlichtweg anwidert. In keinem Falle sollten die Wenigen, die sich über das Internet über Maßkleidung und Stil austauschen, den Fehler machen, zu glauben, dass sie auch nur im Geringsten repräsentativ für die eigentliche Zielgruppe von Maßkleidung sind. Auch wenn man also annehmen
kann, dass das eigentliche Potential von Maßkleidung außerhalb der Internetforen liegt, kann man ebenso davon ausgehen, dass in Deutschland die Dichte an Schneidern für die tatsächliche, potentielle Käuferschicht von Maßkleidung vollkommen ausreicht.
Weiterhin können die paar Wenigen, die Maßkleidung zu schätzen wissen und für sich als unabdingbar betrachten, es sich in der Regel leisten auf ausländische Schneider zurückzugreifen. Im Rahmen eines Hobbys ist es ja auch viel spannender, cooler und für das persönliche Umfeld beeindruckender, wenn man zu "seinem Schneider" nach London, Mailand oder Neapel jettet, anstatt nach Bielefeld oder Hannover zu fahren. Von denjenigen, die Maßschneiderei nicht als Hobby, sondern als selbstverständlichen, traditionellen Luxus betrachten, kann man ohnehin einen entsprechenden finanziellen Hintergrund und entsprechend viel frei zur Verfügung stehende Zeit erwarten, so dass internationales Shopping hier eine Selbstverständlichkeit darstellt.
Weder in den Medien, noch in der Politik oder in den oberen Wirtschaftskreisen ist in Deutschland (sehr) gute (Maß-)Kleidung erforderlich. Auch der Grundsatz man solle sich nicht seiner jetzigen Position entsprechend kleiden, sondern der, die man zu erreichen versucht, ist in Deutschland in den allermeisten Fällen nicht angebracht, sondern kontraproduktiv. Beherzigt man nämlich diesen Grundsatz, ist man unversehens besser gekleidet, als sein Boss, was in jedem Falle zu vermeiden ist. "Dress for success", wie es die Amerikaner betreiben, ist in Deutschland in der Regel nicht nötig und in nicht wenigen Fällen sogar karriereschädlich. Wer sich durch die Hierarchie nach oben arbeiten will, sollte eher darauf achten, nirgends und bei niemandem unangenehm aufzufallen. Da die entsprechenden Vorgesetzten einst ebenso gehandelt haben, und selbst der Vorstand es in den meisten Fällen an Eleganz und Stil mangeln lässt, ist die Skala nach oben in der Regel sehr begrenzt.
Im beruflichen Umfeld bleibt für Stil und Eleganz fast nur noch die unternehmerische Selbständigkeit als Refugium, aber solange man es mit Normalbürgern als Kunden zu tun hat, sollte man auch hier tunlichst darauf achten, es nicht zu übertreiben um nicht als arrogant und oberflächlich zu erscheinen, es sei denn man verkauft Adelstitel an Möchtegerne. Dass man dann allerdings von Bevölkerungsschichten außerhalb seiner Klientel beargwöhnt wird, sollte man einkalkulieren.
Ich behaupte nicht, dass der Deutsche per se stillos ist, aber äußere Erscheinung ist nicht das, worüber sich Deutsche definieren. Von Deutschen wird, auch im Ausland, nicht erwartet, dass sie in Maßanzügen daherkommen, sondern dass sie effektiv, fleißig und genau, gewissenhaft und organisiert, erfinderisch und innovativ sind. Und eben auch nach außen diese Werte verkörpern und nicht durch Eleganz und Wertigkeit ihrer Kleidung beeindrucken. Dem Italiener, Franzosen oder Spanier nimmt man das nicht übel und erfreut sich an seinem Charme und seiner Eleganz, während man im geschäftlichen Umgang mit ihm eine gewisse chaotische Arbeitsweise einkalkuliert und toleriert. In England sieht es noch wieder anders aus, dort werden zum einen Traditionen hochgehalten, zum anderen geht es nicht in erster Linie um Eleganz, sondern darum möglichst nicht negativ aufzufallen. Insofern dürfte England das ideale Umfeld für Maßkleidung bieten. Amerika und neuerdings auch Asien sind eher durch oberflächliche Zurschaustellung von Reichtum und Statussymbolen geprägt, als von selbstverständlicher Eleganz und Tradition.
Vor diesem Hintergrund ist es natürlich schwer Nachwuchs zu begeistern und zu versuchen einem Handwerk wieder den Stellenwert zu verschaffen, den es auch in Deutschland einmal hatte. Gäbe es jedoch einen entsprechenden Bedarf, würde sich die Lage von alleine in die dann gewünschte Richtung entwickeln.