Einstecktuch und Mantel

Wenn es irgendwo einen Bereich geben sollte, wo ein weißes- nur mit der Kante gezeigtes- Einstecktuch "zu viel" ist. Gehe ich davon aus das schon ein Sakko oder Anzug zu viel ist.
Mir ist klar, dass Sie aufgrund Ihrer eigenen Erfahrungen davon ausgehen. Seien Sie versichert, das ist nicht allgemein übertragbar. :) Leider, möchte ich grundsätzlich hinzufügen.

Ich weiß das eine Krawatte als "normaler" gilt, aber woher kommt das?
Die Krawatte hat ihren Platz in dem ästhetischen Sinn, den Blick des Betrachters in Richtung Gesicht zu ziehen. Den Sinn kann ich im Einstecktuch nicht sehen. Im schlimmsten Fall, nämlich wenn es falsch ausgesucht wurde, lenkt es sogar davon ab.

Auch die breite Abneigung gegen das ET, wieso?
Geschäft hat in den meisten Fällen etwas Nüchternes, wo man die eigene Person zugunsten der Sache zurücknimmt. Dazu passt keine persönliche Eitelkeit. Wenn der Durchschnitt besser und gekonnter angezogen wäre, wäre das vielleicht egal. Andererseits sehen manche Banker und Juristen ab einer gewissen Hierarchieebene eine Tradition darin, sich in diesem soldatisch nüchternen Umfeld kontrastierend in der Vordergrund zu spielen. Da hat das Einstecktuch dann seinen festen Platz. Genau wie der dominante dunkelblaue Kreidestreifenanzug. :)

Da gibt es die Krawatte, wo niemand erklären kann wieso die so als seriös gilt
Nicht jede Krawatte gilt als seriös. :) Wir haben Leonard, glaube ich, schon mal erwähnt. ;)

Wie gesagt, ich bin konzeptionell nicht gegen das Einstecktuch. Es zum Anzug zu tragen war früher in einer gewissen Klasse ein normales gesellschaftliches Element. Heute ist der Anzug vor allem eine klassenübergreifende Bürouniformierung und daraus entstehen die Unterschiede. In diesem Umfeld darf es in den meisten Fällen nicht danach aussehen als hätte man sich zum eigenen Vergnügen und zum Showeffekt gegenüber anderen kostümiert. Dass es eine kleine Gruppe von Leuten gibt, die Spaß an Kleidung haben und diese gerne gemäß der alten gesellschaftlichen Konvention zelebrieren, ändert daran nichts. Auch wenn ich mich dieser Gruppe selber zugehörig fühle.
 
In welcher Situation wäre denn zB ein dezent kaum sichtbares weißes Einstecktuch unpassend? Oder negativ angesehen?
Überall dort, wo man auch ohne Einstecktuch schon mit Abstand am besten (und am formellsten) gekleidet ist. Wenn man sich mal Vorstandsmitglieder von DAX- und großen MDAX-Konzernen anschaut, wird man (Banken ausgenommen) sehr wenige Einstecktücher finden, einfach mal googlen. :) Im mittleren Management, mit dem ich überwiegend zu tun habe, trägt dann maximal die Hälfte gerade mal ein Sakko. Das sind etwas andere Voraussetzungen als in einem Herrenmodeforum. :)

Wenn man für diese Leute Beratungsleistungen erbringt oder anbietet, sollte man nicht wesentlich über dem Niveau üblicher Geschäftsbekleidungsvorstellungen spielen. Anzug und Krawatte sind geläufig und akzeptiert auch bei denen, die selber längst zu "Business Casual" (was immer das dann auch konkret sein mag ;)) gewechselt sind, sieht jeder jeden Abend dutzendfach in der Tagesschau. Aber das Einstecktuch war spätestens ab 1980 klinisch tot. Eine ganze Generation ist ohne dieses Accessoire aufgewachsen und das prägt.

Erst in jüngerer Zeit des iGent-Backlashs, wo jeder seinen Flusser gelesen hat, "the pocket square is not optional!" :), kam in kleinen Nischen das Einstecktuch zurück. Im Überschwang der Konvertiten wurde dann gerne vergessen, dass auch Cary Grant und Marcello Mastroianni nicht pausenlos Einstecktücher trugen, z.B. wenn gerade mal kein Fotoshooting anstand. :)

Ich werde mir zum Ziel setzen mind. einen Kunden die Woche für ET's zu begeistern :D ich werde berichten....^^
Lobenswert und absolut in unserem Interesse. :) Ich denke, dass der Spaß an hochwertiger klassischer Kleidung mit den traditionellen Komponenten nach Überwinden der Einstiegshürde als Verfeinerung des eigenen Lebens gut vermittelbar ist. Was in unserer Zeit fehlt, sind einfach die passenden Medienvorbilder für Einsteiger. Einfache, hemdsärmelige Zugänglichkeit gegenüber jedermann unabhängig von dessen Hintergrund gilt heute im beruflichen Alltag als höhere Tugend als die dem auf den ersten Blick ein wenig widersprechende, ursprünglich klassengeprägte Selbstinszenierung über formellere Kleidung und feine Lebensart, das ist die tiefere Ursache des Siegeszugs von Business Casual. Davon sind nur die Berufsgruppen ausgenommen, die sowieso traditionell als exaltierte Einzelkämpfer agieren, im Klischee also Anwälte, Broker, Kreative (und die, die sich gerne dafür halten).
 
Ist nicht diese Vorbilder-Suche genau das Problem. Also nicht die Vorbilder, sondern das die die sie sich suchen sich mehr mit dem beschäftigen was sie machen- OHNE die Regeln selbst zu beachten....
Die "Regeln" beachtet doch sowieso schon kaum einer mehr und zwar nicht aus eigenem Entschluss, sondern aus Ignoranz und kultureller Verarmung, das ist ja genau das Problem.

Regeln und Dogmen sind irrelevant, das ist nur eine Hilfskonstruktion für die, denen ein tieferes Verständnis fehlt. Wenn man ästhetische Grundkonzepte in Verbindung mit der menschlichen Anatomie begreift, kann man in jeder Form von Bekleidung gut aussehen. Wenn man zusätzlich deren soziale Wirkung in der Anwendung auf die eigene Person antizipieren kann, wird man in jeder Situation als gut angezogen gelten.

Wenn man diese Abstraktion nicht leisten kann oder will, bleiben einem nur die Vorbilder in den Medien. Und wenn die dann Brad Pitt oder 50 Cent sind und nicht moderne Nachfolger von Cary Grant oder Clark Gable, hat das natürlich Folgen. :)
 
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