Deutscher Stil - wie sieht er aus?

Interessanter Ansatz. Ich würde sehe die Quelle dieses Phänomens eher früher und zwar bei den Preussen. Bescheidenheit und "mehr Sein als Schein" gilt als eine klassische preussische Tugend. Dies ist wiederum im Calvinismus und Lutherismus begründet.
 
Ich lehne mich jetzt mal ein wenig aus dem Fenster und stelle die These auf, dass das seine Ursachen in der Nachkriegszeit hat.

Dagegen spricht, dass man noch in den 60ern z.B. an der Uni Anzug trug. Die in Preußen so beliebten Uniformen waren dagegen nach 45 nicht mehr so angesagt. Selbst Menschen wie Rudi Dutschke würden an heutigen Universitäten overdressed wirken (zumindest hatte er Anzug, Hemd und Krawatte, auch, wenn er sie später nicht mehr getragen hat). Mein Vater und Großvater haben bis zu dieser Zeit überwiegend maßgeschneiderte Anzüge getragen, weswegen ich vermute, dass es kaum andere Möglichkeiten gab sich entsprechend zu kleiden. Man beschränkte sich auf wenige unauffällige Teile. Zeit und Geld für modische Experimente hatte man in der Zeit des Aufbaus nicht. Reisen, Auto und Haus waren wichtiger. Im Buch "Onkel Toms Hütte, Berlin" von Pierre Frei ist aber noch der größte Traum eines der Akteure ein Maßanzug aus englischem Tweed. Ansonsten ist der Roman auch historisch äußerst korrekt, wie es mir scheint, daher stand er mit dem Traumwohl nicht allein da.
Erst in den 70ern orientierte die Allgemeinheit sich imo kleidungstechnisch eher nach unten, als nach oben (Schuld daran ist nur die SPD ;) ). Insbesondere aber auch das Überschwappen von Popmusik änderte den Kleidungsstil und als man dann mehr Zeit hatte, hatte keiner mehr Lust auf graue Anzüge. Und da man in Deutschland immer alles extrem macht, reichte ein buntes Einstecktuch oder Krawatte nicht. Die Massenproduktion machte bunte T-Shirts und Pullover dann zum Allgemeingut.
 
Lieber Gene,
Dagegen spricht, dass man noch in den 60ern z.B. an der Uni Anzug trug. Die in Preußen so beliebten Uniformen waren dagegen nach 45 nicht mehr so angesagt.

Das spricht in meinen Augen nicht dagegen, sondern dafür. Denn ob man jetzt den preußischen Uniformfetischismus oder den Mausgrauen Anzug betrachtet, beides ist Zeichen von Uniformität und von regider Gleichmacherei, die keine Abweichungen toleriert. Da ist dann sozusagen nur die Nachkriegsnot auf den fruchtbaren Boden des preußisch begründeten Naziuniformwahn getroffen.

Mein Vater und Großvater haben bis zu dieser Zeit überwiegend maßgeschneiderte Anzüge getragen, weswegen ich vermute, dass es kaum andere Möglichkeiten gab sich entsprechend zu kleiden.

Ich glaube an anderer Stelle in diesem Forum ist besprochen worden, dass es bis in die 70ger Jahre kaum die Möglichkeit gab, RTW zu kaufen (Hemden und Wäsche natürlich schon). Erst dann begann die Zeit des großen Schneidersterbens.
Unter diesem Gesichtspunkt finde ich die Stildebatte eigentlich noch interessanter. Will man heute etwas besonderes, so bleibt einem nichts weiteres übrig als der Gang zum Schneider, da die Einkäufer der Warenhausketten allesamt eine ähnliche Linie fahren. Somit muss man sich sehr bewusst mit Kleidungswünschen auseinandersetzen und sich ungewöhnlich und nonkonform verhalten.
Das allerdings die Herren in den 50ger und 60ger Jahren, die _sowieso_ beim Schneider waren und denen es ein Leichtes gewesen wäre, etwas Besonderes machen zu lassen, sich samt und sonders das Gleiche schneidern ließen, ist für mich ein weiterer Hinweiß auf die Zero-Tolerance Haltung, die in der damaligen Zeit auch Bekleidungsfragen gegenüber zum Ausdruck gebracht wurde.

Erst in den 70ern orientierte die Allgemeinheit sich imo kleidungstechnisch eher nach unten, als nach oben.
Insbesondere aber auch das Überschwappen von Popmusik änderte den Kleidungsstil und als man dann mehr Zeit hatte, hatte keiner mehr Lust auf graue Anzüge.

Nun kann man im nach hinein bedauern, dass die neu gespürte Freiheit nicht nach "oben" sondern nach "unten" geführt hat, natürlich waren weder die Hippies, noch die Punks, noch Grunge Freunde von "klassischer" Kleidung, aber wie auch, wenn das wesentliche Merkmal einer Welle, das stilistische Absetzen zu der vorherigen ist?
Einzig die New Wave Bewegung der 80ger Jahre hätte einige Foristen hoffen lassen können, warum dieser keine längeren Spuren hinterlassen hat mag das nächste Thema sein.

Grüße Stefan
 
- Ich lehne mich jetzt mal ein wenig aus dem Fenster und stelle die These auf, dass das seine Ursachen in der Nachkriegszeit hat. Damals ging es fast allen furchtbar schlecht und man musste tüchtig in die Hände spucken, damit es bald wieder besser wird. (keine Ironie)

Wer damals Geld, Zeit und die Chuzpe hatte auf "feine" Kleidung zu achten und sie zu zeigen, hat sich quasi als Kriegsgewinnler abgesondert.

-Ich glaube an anderer Stelle in diesem Forum ist besprochen worden, dass es bis in die 70ger Jahre kaum die Möglichkeit gab, RTW zu kaufen (Hemden und Wäsche natürlich schon). Erst dann begann die Zeit des großen Schneidersterbens.

-Das allerdings die Herren in den 50ger und 60ger Jahren, die _sowieso_ beim Schneider waren und denen es ein Leichtes gewesen wäre, etwas Besonderes machen zu lassen, sich samt und sonders das Gleiche schneidern ließen, ist für mich ein weiterer Hinweiß auf die Zero-Tolerance Haltung, die in der damaligen Zeit auch Bekleidungsfragen gegenüber zum Ausdruck gebracht wurde.

Ich würde diese drei Feststellungen/Vermutungen doch stark anzweifeln :

Bekanntlich gab es das Wirtschaftswunder mit Währungsreform und einer (ziemlich exportfreundlichen?) D-Mark-Einführung.

Das damit (Wirtschaftsdynamik-Verlauf) einhergehende Konsumverhalten wird gelegentlich als eine (sehr pauschal dargestellte) Abfolge von Wellen charakterisiert -
Fresswelle, Bekleidungswelle, Motorisierungswelle, Reisewelle...

Nicht unterschätzt werden sollte in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung des Bekleidungs-Versandhandel von bspw. Neckermann, Otto, Quelle.

Die jeweiligen modischen Einflüsse, wohl überwiegend aus anderen Ländern ? , oder auch technische Fertigungsneuheiten (Farben und Materialien ) sind ein weiterer Aspekt.

Was die postulierte Gleichförmigkeit der Mass-Schneiderei in den 50/60er Jahren betrifft, sollte man vielleicht Vergleiche mit dem heutigen Anteil an dunkelblauen oder grauen Anzügen o.ä. anstellen ?

Meine (sehr kleine...:D) Stichprobe aus dieser Zeit zeichnete sich durch eine Vielfalt an Farben und Materialien aus:
mehrere Sommer- und Freizeitanzüge von hellbeige über grasgrün bis braun, schweres graues Flanell, dunkelblaue Blazer mit Polyester-Anteil, Nadelstreifen/ Blockstreifen/ typische "Zackenmuster"...

"Kriegsgewinnler" gerieten vermutlich eher durch Pelz und französische Haute Couture unter Verdacht und Kritik ? :rolleyes:
 
Ein positives Beispiel für (vermutlich) deutschen Stil gibt es m.E. sehr gelungen in der (ausgezeichneten) Kurzserie "Kir Royal" von Helmut Dietl.

Im Netz gibt es leider nicht viele Fotos davon, aber einen ganz guten Eindruck bekommt man hier:
http://www.youtube.com/watch?v=XuE37DrI7PI
http://www.amazon.de/Kir-Royal-Folge-1-2/dp/B0007LF4G2/ref=sr_1_13?ie=UTF8&qid=1295621197&sr=8-13
http://www.amazon.de/Kir-Royal-Folge-3-4/dp/B0007LF4GC/ref=sr_1_14?ie=UTF8&qid=1295621197&sr=8-14

Und sehr schön zum Thema Mode:
http://www.youtube.com/watch?v=bY6z7uMGvu8

Interessant daran finde ich vor allem, wie gut weiße Kontrastkrägen an Franz-Xaver Kroetz aussehen und wie sehr weiße Einstecktücher ein Outfit aufwerten können.
 
Ein positives Beispiel für (vermutlich) deutschen Stil gibt es m.E. sehr gelungen in der (ausgezeichneten) Kurzserie "Kir Royal" von Helmut Dietl.

Im Netz gibt es leider nicht viele Fotos davon, aber einen ganz guten Eindruck bekommt man hier:
http://www.youtube.com/watch?v=XuE37DrI7PI
http://www.amazon.de/Kir-Royal-Folge-1-2/dp/B0007LF4G2/ref=sr_1_13?ie=UTF8&qid=1295621197&sr=8-13
http://www.amazon.de/Kir-Royal-Folge-3-4/dp/B0007LF4GC/ref=sr_1_14?ie=UTF8&qid=1295621197&sr=8-14

Und sehr schön zum Thema Mode:
http://www.youtube.com/watch?v=bY6z7uMGvu8

Interessant daran finde ich vor allem, wie gut weiße Kontrastkrägen an Franz-Xaver Kroetz aussehen und wie sehr weiße Einstecktücher ein Outfit aufwerten können.

Unterschreibe ich. Helmut Dietl selber ist auch ein absoluter Stil-Leuchtturm. Ich hab mal in München in relativer Nachbarschaft zu ihm gewohnt und bin ihm beim Gassigehen öfter mal begegnet. Immer höflich und immer wie aus dem sprichwörtlichen Ei gepellt.
 
Liebe Mitforanden,

ich habe diesen Faden jetzt das erste Mal gelesen - von vorn bis hinten. Auch wenn das Thema schon etwas älter zu sein scheint, erlauben Sie bitte, dass ich jetzt auch meinen Senf dazu gebe:

Zunächst einmal finde ich, dass die "Suche" abgesehen von einigen unschönen Flame-Wars schon recht erfolgreich verlaufen ist. Dass etwa das Thema "Drittes Reich" und "Uniformen" so weitläufig besprochen wurde, war klar - und lässt die Hoffnung zu, dass man diese Diskussion jetzt als weitgehend geführt beiseite lassen kann.

Ich würde gern ein wenig mehr Struktur in die Diskussion bringen. Schließlich gibt es doch ein paar Sachen zu unterscheiden.

Zum einen gibt es Trachten etc. - klar, irgendwie typisch deutsch, aber auch andere Länder haben so etwas, nehmen wir etwa unsere osteuropäischen Nachbarn. Daraus einen "deutschen Stil" zimmern zu wollen, halte ich für eine Sackgasse. Ich denke, man kann aber durchaus sagen, dass einige Elemente daraus übernommen werden. Ich denke da insbesondere an Trachtenjacken, Lodenmäntel, Hirschhornknöpfe etc., die insbesondere im Süden getragen werden, die aber auch meine Verwandten aus MeckPomm, die aus dem ländlichen Umfeld stammen, bei Anlässen tragen - und gut damit aussehen.

Jetzt würde ich gern noch eine Zweite Unterscheidung machen. Teilweise wurde hier über den aktuellen deutschen Stil geredet ("was man heutzutage in Berlin Mitte sieht...unmöglich etc."), teilweise wurde versucht, eine Stilhistorie zu erstellen. Auch wenn sie diese Themen nicht völlig trennen lassen, sollte man doch nicht beides in einen Topf werfen.

Ich würde gerne einen kurzen geschichtlichen Exkurs einfügen:

Wenn man von einer Geschichte des deutschen Stils redet, kann man wahrscheinlich bis Ende d. 19. Jahrh. zurückgehen. Bestimmte Elemente wie etwa der Protestantismus sind zwar älter, eigentlich hat sich aber der "moderne Stil" der Männer ab dieser Zeit entwickelt. Ich bin kleidungshistorisch nicht sehr bewandert, aber ich denke, es ist eine sichere Wette zu sagen, dass die deutsche Geschichte seit diesen Tagen sehr bewegt war:

- Wilhelminisches Zeitalter
- 1. WK
- Roaring Twenties
- 2. WK
- Aufbauphase
- Wirtschaftswunder
- Generation 68
- 80er Jahre
- "Internetboom" der 90er
- Jetztzeit

So würde ich ganz grob viele verschiedene Phasen festmachen wollen. In der Zeit, in der andere Länder ihren Stil entwickelt haben, hatte Deutschland 2 Kriege plus damit einhergehende Aufbauphasen zu bewältigen. Nicht gut für den Stil. Ich denke, die Basis eines zu findenden deutschen Stils müsste im wilhelminischen Zeitalter (Stresemann etc.) sowie in den goldenen 20ern zu finden sein. Hier kenne ich mich leider viel zu wenig aus, um viel dazu zu sagen.

Nach 45 muss einfach klar sein, dass eine gewisse Verachtung für "Fashion" in Deutschland Usus war. Nicht wenige von uns werden von der sog. Nachkriegsgeneration aufgezogen worden sein. Diese mag auch zu Geld gekommen sein, Mode war aber für sie ein Luxus, den sie sich oft nicht erlauben wollte. Bescheidenheit war Trumpf. Das galt auch im Wirtschaftswunder: Dickes Auto war ok, aber kleidungstechnisch blieb man auf dem Teppich (Ausnahmen bestätigen immer die Regel).

Über die stiltechnisch verheerenden 68er muss man nicht reden, auch wenn ein Außenminister Joschka Fischer ja letztlich sehr gut gekleidet war und diese Generation für den Freizeitlook und alternativen Look viel geleistet hat.

Ich denke, Deutsche haben sich mit Mode erst wieder ernsthaft ab den 80ern beschäftigt. Zu spät, um wieder an typisch deutsche Eigenschaften anzuknüpfen? In dieser Zeit wurde viel, wie üblich, auch aus den USA übernommen, man hatte nicht das Selbstbewusstsein, stilmäßig einen eigenen Stiefel zu fahren.

In den 90ern mit dem Medienboom lässt sich wohl eine Auflockerung des Stils verbinden. Weniger Binder, schlankere, schickere Schnitte, Sneaker zum Anzug, solche Sachen.

Ich könnte mir vorstellen, dass jetzt die Zeit langsam reif wäre für authentische Deutsche Mode. Womit wir wieder bei der Anfangsfrage wären, was ist das eigentlich?

Angesichts unserer Geschichte glaube ich letztlich auch, dass der dt. Stil zumindest seit 45 eher von einer "sozialdemokratischen" Zurückhaltung geprägt ist. Nicht auffallen, weder positiv noch negativ. Deshalb auch Hugo Boss: Gut gekleidet, nie auffällig gekleidet (so war das jedenfalls früher mal bei der Marke). Ähnliches lässt sich wohl auch von den anderen deutschen Herrenmarken behaupten. Gleiches gilt für die Verarbeitung: Gut, aber ohne Schnörkel. Gleiches für die Farben etc.

Ich könnte mir vorstellen, dass ein " neuer deutscher" Stil dem skandinavischen ähnlich sein könnte. Auch dort war ein "sozialdemokratischer Stil" vorherrschend. Auch dort gibt es nicht "Die" Stilikonen wie bspw. bestimmte Muster oder Formen. Eher zurückhaltend als flashy, ohne die klassischen Elemente etwa einer englischen Mode, aber aus guten Materialien, mit Köpfchen entwickelt, alltagstauglich aber dennoch elegant. Als Freizeitlabels fallen mir da zB Marc O Polo oder Filippa K ein. Ich weiß nicht, ob etwas vergleichbares im Business-Segment exisitiert.

Langer Text, ob der Inhalt das aufwiegt, keine Ahnung - aber es ist ja ein wirklich interessantes Thema.
 
Zurück
Oben