Mir erscheint es reichlich hochstilisiert und die Sterberaten rechtfertigen meines bescheidenen Erachtens nicht die Maßnahmen
Es sind bislang mehr als 90000 Menschen gestorben. Und zwar
trotz der Maßnahmen. Wie hoch, glaubst Du, wären die Sterberaten ohne diese Maßnahmen gewesen? 500000? 1000000? Leichenberge wie in Bergamo, New York oder Mumbai? Wäre das dann immer noch reichlich hochstilisiert? Es gibt doch reichlich internationale Beispiele dafür, was passiert, wenn man es laufen lässt, auch jetzt noch in diesem Moment.
Du beurteilst die Maßnahmen anhand einer Realität, die erst durch ihre Anwendung zustande gekommen ist. Das tun in der Tat auch nach 18 Monaten Pandemie viele Menschen und es ist ein ganz offensichtlicher logischer Fehler.
Deutschland ist bei allen Problemen, die auf seiten überforderter Politiker und öffentlicher Verwaltung entstanden, die auch zum ersten Mal in einer solchen Lage waren, genau durch das, was richtig gemacht wurde, bislang ganz objektiv anhand der Zahlenlage besser durch die Pandemie gekommen als die entwickelten Länder der westlichen Hemisphäre (mit der Ausnahme von Kanada). Und das bei der für eine Pandemie ungünstigsten geografischen Lage in Europa und mit Maßnahmen, die wesentlich sanfter waren als in Frankreich, Spanien oder Italien.
Ich bin bei anekdotischer Evidenz immer skeptisch. Natürlich kennt jeder Arzt immer jemanden, der eine sehr seltene Erkrankung hat. Bei genauer statistischer Analyse zeigt sich dann aber meist kein signifikanter Unterschied zu einer Kontrollgruppe. Ich bezweifle keinesfalls, dass es solche (Einzel-)Fälle gibt, aber durchaus, dass auch nur annähernd im Verhältnis zum Nutzen von Impfungen stehen.
Der Punkt ist, dass alle Laien immer eher nach anekdotischer Evidenz in ihrem direkten Umfeld urteilen als nach dem, was einem irgendeiner im Fernsehen erzählt, das ist psychologisch nachvollziehbar und am Ende auch bei mir so. Nur sind meine Anekdoten halt anders als die von
@The Silver Dragon.
Mein privates Umfeld ist ebenfalls bislang von Infektionen verschont geblieben, aber mein berufliches sieht da anders aus. Da ruft meine Business Product Ownerin, eine meiner allerliebsten Kollegen, panisch über Teams durch, dass sie am Folgetag erst mal nach Hause fliegen muss, weil ihre Eltern beide Covid bekommen haben und ihre Mutter ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Ihr ursprüngliches Zuhause ist in San José, Costa Rica. Sie bucht sich also von Berlin einen sündhaft teuren Spontanflug, kommt mit fettem Jet Lag an, wird von ihrem Bruder, der selbst Arzt ist und sich schon mit den Kollegen im Krankenhaus kurzgeschlossen hat, abgeholt und darauf vorbereitet, dass die nächsten 24 Stunden für Leben oder Tod entscheidend sind, die Mutter ist mittlerweile schon auf die Intensivstation verlegt worden und wird beatmet. Am Ende hat sie zum Glück überlebt, leider mit schweren Lungenschäden, ihr Vater hatte einen moderaten Verlauf und meine Kollegin ist auch wieder in Berlin. Die Infektionsbilanz in meinem direkten Kontaktumfeld sind bislang darüber hinaus fünf deutsche Kollegen, drei Schweizer, zwei Amerikaner, ein Südkoreaner und etwa zwanzig Inder, dort auch mit weiteren Infektionen und leider auch Todesfällen in der Familie, drei Long-Covid-Fälle bei den Deutschen und Schweizern. Impfprobleme gab es übrigens genau 0 und alle, die ich kenne, privat und beruflich, sind ohne jede Ausnahme bislang mindestens einmal geimpft, viele auch schon zwei Mal. Auch mittlerweile die indischen Kollegen über ihre Firma.
Ich mag das aufgrund der Konstellation meines beruflichen Umfeldes etwas internationaler sehen, ich trenne das nicht, weil es das gleiche Virus ist, wo immer es auch auftritt. Wenn man eine regionale Hochinzidenz hat, dann kann es einen einfach treffen, aus heiterem Himmel, in gleicher Weise wie meine Kollegen in ihrem Umfeld. Ein reiches Land schützt einen nicht davor. Und da ich schon im letzten Herbst mit dem Urvirus und einer damals noch schärfer geschalteten Corona Warn App Warnungen von flüchtigen Kontakten mit nachweislich Infizierten bekam (unter Lockdown-Bedingungen!), die damals dank der geringeren Infektiösität noch nicht zur Ansteckung führten, ist mir sehr klar, wie groß die Gefahr mit infizierten Passanten im Falle von Delta ist, wo so ein ganz flüchtiger Kontakt ausreichen kann, ohne dass man eine Stunde mit einem Infizierten zusammensitzen muss.
Und neben meinem Selbstschutz denke ich da auch an meine steinalten Schwiegereltern. Ja, sie sind schon länger durchgeimpft mit Biontech/Pfizer, aber schon ab August kann ihr Impfschutz schwächer werden und ihr Immunsystem ist durch das Alter ohnehin nicht mehr leistungsfähig. Wie hat ein Experte mal gesagt, ein 80jähriger Durchgeimpfter hat den Schutz eines 50jährigen Ungeimpften. Das ist nicht so ganz viel, muss ich sagen. Wenn ich mir vorstelle, dass ich mich anstecke und das weitergebe und sie gehen meinetwegen drauf, ich würde mir das nie verzeihen können. Ich darf mich halt nicht anstecken und dafür tue ich alles, was zur Risikominimierung in meiner Macht steht. Natürlich könnte ich auch irgendwen auf der Straße anstecken und dessen Mutter geht daran drauf, ohne dass ich irgendwas davon mitbekomme. Der eigene Familienbezug macht es für mich greifbar. Als notorischer Egoist brauche ich so was, um das Richtige zu tun.