Bespoke auf dem Lande - Zur Diskussion

Guten Tag,
anhand der oben geführten Diskussion könnte es ja evtl. tatsächlich den praktikablen und pragmatischen Mittelweg bedeuten, dem Schneider Photos von Kleidungsstücken zu zeigen, die genau meinem angestrebten Idealbild des fertigen Produkts entsprechen und ihm dann in seiner künstlerischen Freiheit möglichst wenige konkrete Einschränkungen aufzuerlegen. (Meine oben eingefügten Photovorbildvorschläge wurden aber leider aus Copyrightgründen gelöscht).
Die schwierige güldene Mitte zwischen Kontrollzwang und vertrauensvollem "let it flow" auszutarieren, fällt sicher vielen peniblen und differenzierten Gemütern nicht gerade leicht.
Grüße, Hagen
 

Im Grunde völlig d'accord, besonders was das Kreative betrifft. Meine Vorgaben setzt mein Schneider dann in seiner ganz individuellen und unbeinflußten Weise um. Aber erteilt werden doch von jedem gewisse Vorgaben (ggf. auf Rat hin auch völlig abgeändert), sei es schiftlich oder mündlich, und zwar zu sehr vielem: Etwa 1/2/3-Knopffront, Anzahl Ärmelknöpfe, Futter (Dicke, Material, Farbe), Taillierung, Schulter, Patten und Paspeln ja/nein, Außentaschen (Form, schräg/gerade, aufgesetzt, Blasebalg, Anzahl etc.), Innentaschen (Anzahl, Lage, Größe, Taschentiefe), 1/2-Schlitz und noch einiges mehr. Das alles zu bestimmen überläßt doch wohl kaum einer zu entscheiden dem armen Schneider mit einem: "Bauen Sie mir mal irgendwas Rockartiges, nur gefallen soll's mir."

Auch dazu ist doch die Maßschneiderei da, nämlich daß die eigenen Vorstellungen in den Grenzen des Realisierbaren, jedoch in der individuellen Formensprache des Schneiders, umgesetzt werden. Exakt dieselben Vorgaben derselben Person an 10 Schneider gegeben ergiben 10 unterschiedliche Werke. Hierin liegt deren Freiheit. Die große Kunst des Schneiders besteht dabei - neben seinem Rat zu Änderungen - darin, diese Vorgaben so umzusetzen, daß etwas Perfektes entsteht, nämlich die Symbiose aus Kleidung und Persönlichkeit. Und hieran wirken sehr wohl zwei (d. h. mit Vorgabe, Rat und Umsetzung und also mit qualitativ und quantitativ sehr unterschiedlichen Anteilen ) mit, nicht nur der Schneider so gut wie alleine. Für mich ist das fast ein Mysterium, wie er es stets schafft, den platten Stoff derart in meine zweite Haut zu transformieren, daß ich seit Anbeginn Komplimente sammle - private wie anonyme öffentliche.

Was Vertrauen betrifft: Ich kann auch ohne eigene schriftliche Vorgabe. Mein erster Mantel z. B. sah bis auf ein einziges Detail anders aus, als die ursprünglichen schriftlichen Ideen. Von denen bin ich auf seine Anregungen hin fast vollständig (und nur mündlich) abgegangen - Gott und ihm sei's gedankt. Ich weiß, daß ich ihm völlig vertrauen kann. Trotzdem möchte er meine ersten schriftlichen Vorgaben, die bei Routinestücken (Sportröcke, Anzüge) dann i. d. R. ohne jede Änderung umgesetzt werden.

À propos, was zu jeder guten Beziehung gehört, so auch beim Schneider: Viel loben, danken, anerkennen, und zwar auch die Details, und (wie man heute so sagt) "authentisch". Aber das ist ja an sich selbstverständlich - im Gegensatz dazu einen guten Schneider zu haben.

Auch Ihnen allen vielen Dank für Ihre Anregungen durch Überlegungen und Kritik. Die waren heute Abend Anlaß dafür, mir selbst so manches Empfundene bewußt zu machen, sei es Konträres oder Übereinstimmendes.
 
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Viel wahres in den letzten Beiträgen.

Wenn es nur um Sicherheit bei der richtigen Auftragserfassung geht, dann: Klar, kann man so machen. Wenn das der Schneider nicht sowieso auch so machen würde, nützt es ihm aber meiner Erfahrung nach gar nichts, insofern ist das eher eine Maßnahme zur Gewissensberuhigung.

Das alles zu bestimmen überläßt doch wohl kaum einer zu entscheiden dem armen Schneider mit einem: "Bauen Sie mir mal irgendwas Rockartiges, nur gefallen soll's mir."
Du würdest Dich wundern. Ich erinnere mich da unter anderem an eine Bestellung eines Kunden beim Schneider, die exakt so und auch nur so lautete: "Ich brauche einen Mantel." Selten ist das nicht.

In der Maßkonfektion ist das ja auch egal, weil die Systemschritte soooo unterschiedlich (bei allem Respekt für die unterschiedlichen Anbieter) nun auch nicht. Auch ansonsten sage ich ja nichts gegen eine schriftliche Auftragsfixierung. Nur: Wenn der Kunde mit der Haltung "Ich muss das alles schriftlich für meinen Schneider ausfertigen, sonst bekommt er's wieder nicht auf die Reihe" an eine Anfertigung herangeht, läuft meines Erachtens einiges falsch und man sollte besser zu jemandem wechseln, bei dem die Kommunikation weniger kompliziert ist.
 
Sie machen doch aber Maßkonfektion.

Eben, mein Reden. Vielleicht habe ich einfach zu viel ins Gesagte hineininterpretiert. Die Einstellung, man könne selbst alles besser als der eigentliche Profi, ist mir vor allem in Deutschland einfach zu verbreitet.
 
Und die eierlegende Wollmilchsau ist auch in der Maßschneiderei i. d. R. nicht zu finden: Ortsnah, perfekt arbeitend, gleiche Wellenlänge (vielleicht sogar Sympathie) und obendrein noch preisgünstig.

D. h., daß die Lösung oft auch ein Kompromiß ist ("wechseln" sagt sich so leicht). Mir fällt für die Beziehung zu meinem Schneider (es ist eine, man kennt sich lange und weiß einiges von sich) immer wieder der Vergleich mit meiner besseren Hälfte ein: Man muß sich eben auch zusammenraufen und ggf. Kompromisse machen. Der Traumpartner existiert zumeist nur in der Phantasie, und Chimären lohnt nicht nachzujagen.

In noch einem Punkt ist es bei meinem Schneider wie mit meiner Angetrauten: Wenn er nicht mehr ist, stell' ich mich auf keinen Neuen ein. Dafür sind die Maßstäbe zu hoch, und mein übervoller Schrank reicht weit über meine Bahre hinaus. Auch an seinem Grab werde ich jedenfalls stehen.
 


Derart abwegig begriffen zu werden, ist mir schon mehr als nur Rätsel. "Günstig" - und allein hiervon war die Rede - läßt sich nicht kurzerhand als "billig" im Sinn der hier indirekt konkludent angezogenen "Geiz-ist-geil-Mentalität" interpretieren. Die allerwenigsten, auch ich nicht, spielen in der "Geld-spielt-überhaupts-keine Rolex"-Liga (wer aber dort spielt, halte sich raus). Andernfalls würde in diesem Forum die Kostenfrage durchgängig thematisches Rarissimum sein, ist sie aber nicht, und dies nicht etwa, weil sich hier die Billigheimer tummeln. Genug davon!

Ganz andere Frage ist, ob man quantitativ (s. c. bzgl. erlegter Summe) und qualitativ über den eigenen Verhältnissen kaufen sollte. Neben Anderem liegt darin das Risiko, daß die freudige Unbefangenheit bei der Benutzung der Gegenstände mangels Ersetzbarkeit bei Verlust nach eingetretener Gewöhnung leidet. Solche Entscheidung ist Sache jedes Einzelnen, und ich werde mich vor allgemeinen Bewertungen dazu hüten.

Was war nochmal die Ausgangsfrage? Ach ja, irgendwas mit Landschneiderei. Zur Entfernung hab' ich auch gehörig beigetragen (...und dann gab ein Wort das andere ...).
 
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Lieber Butch,

herzlichen Dank, daß Sie mich sogleich aus der von mir empfundenen Schußlinie gezogen haben. Und, bitte, sehen Sie mir das "Sie" nach - das war immer so mein Stil. Wie ich selbst angesprochen werde, hat mich stets non minime tangiert. Und schließlich ist das hier ein Forum.

Wie oben schon mal gehe ich auch weiter mit Ihnen völlig d'accord. Insoweit nur noch ganz allgemein (nicht in Bezug auf Sie, aber Sie haben die Überlegung veranlaßt) etwas zu Wert, Preis und Umgang damit: Mein Schneider hat z. B. in den letzten sieben Jahren um insgesamt 1/3 angehoben. Es war mir jeweils so was von piepschnurzegal, weil ich ihn mir selbst bei weiter steigendem Preis leisten will (und kann).

Der Preis ist mir Neben-, die Freude Hauptsache, sie ist des Preises (Gegen-)Wert. Bei Abnahme des jüngsten Stücks vor drei Monaten vermeinte er die letzte Erhöhung bei Auftragserteilung vereinbart zu haben, erkannte seinen Irrtum dann aber. Obschon dessen habe ich selbstredend den neuen Preis bereits für dieses Stück erlegt. Seine Kunst und er sind es (mir) wert, und dieses Empfinden darf/soll/muß er haben. Deshalb habe ich auch nie das "Honorargespräch" mit ihm gesucht. Was er nannte, war der Preis von Anbeginn , und was er zukünftig nennt, wird der Preis sein - basta! Auch das ist für mich, und sicherlich so gut wie alle Maßkunden, Stilfrage. Schneider (und Schuhmacher) sind keine Gebrauchtwagenhändler.

Nochmals herzlichen Dank und erholsamen Abend

B. E.
 
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Sie sind einer von den wenigen guten Kunden, die ein Schneider haben kann. Wenn ich 100h fuer einen Anzug brauche, den ich mit Liebe herstelle, dann kann ich doch nicht mit 20$/h rechnen. Da kommt dann noch Material dazu. Wer eben das nicht zahlen kann muss auf MTM umsteigen oder selber Schneider werden. Da kann er ja dann selber fuer 3.50$/h schneidern, so zum Spass. Schneider haben kein gutes Leben, alle wollen preiswert und es gibt zu wenige Kunden, die sich das leisten koennen und dann gibt es noch viel zu viele Schneider auf dieser Welt fuer die wenigen Kunden. Ich habe noch Glueck, das ich als Ingenieur arbeiten kann und dem Billig-Wahnsinn ausweichen kann, mich nicht mit 3.5$/h prostituieren muss. Die Massschneiderschwemme hat sich in 15 Jahren wohl sicher aufgeloest und dann bin ich 65 und kann immer noch 20 Jahre schneidern.

www.berlinbespokesuits.com