Maßkonfektion und Maßschneiderei

Konfektion, Ready-to-wear. Made to measure, tailor made, bespoke – die Welt der klassischen Herrenmode ist voll von mehr oder weniger klaren und deutlichen Fachbegriffen, die Einsteiger in die Materie oft mehr verwirren als informieren. Dazu trägt auch die teilweise haarsträubende Erklärungsmoral der Hersteller bei, die all zu oft Begriffe undeutlich oder falsch verwenden, sei es, um den Kunden scheinbar weniger mit brancheninternem Fachchinesisch zu belasten, oder um das eigene Produkt unbemerkt aufzuwerten. Besonders gleichgültig und gleichmacherisch wird mit den Begriffen Maßkonfektion und Maßschneiderei umgegangen. Es wird vertauscht, verwischt, verschleiert. Genau betrachtet, sind die Unterschiede jedoch deutlich.

Beide Begriffe werden oft unter dem Denkmantel der Maßkleidung subsummiert und Eigenschaften und Vorzüge der jeweiligen Fertigungsart großzügig beiden Segmenten zugeschlagen. Gerade in Zeiten in denen Maßkonfektion beinahe überall und Maßschneiderei wahlweise schwer erhältlich oder sündhaft teuer ist, sollte jedoch einwandfrei unterschieden werden.

Handwerkliche Maßschneiderei ist, wenn man so will, Ursprung, Triebfeder und Seele heute und künftig klassischer Herren- wie Damenmode. Ausgehend von körperlichen wie visuellen Anforderungen des Kunden erstellt der Schneider individuelle Kleidung. Der Schnitt hierfür wird nur für den Kunden erstellt und paßt nur ihm perfekt. Grenzen hinsichtlich der Machbarkeit stellen im Prinzip lediglich die Phantasie des Kunden und die Fingerfertigkeit des Schneiders dar: Vom klassischen dreiteiligen Anzug mit drei Schließknöpfen am Sakko und doppelreihiger Weste bis hin zum Sportoutfit mit Kniebundhosen und Bewegungsfalten im Jackenrücken oder gar Langlaufbekleidung aus wasserabweisendem Tweed ist beinahe alles möglich. Hinsichtlich der Einmaligkeit des Produktes und des Grades der Mitgestaltung ist Maßschneiderei im wahrsten Sinne des Wortes das Maß der Dinge. Diese Flexibilität geht allerdings mit einigen Nachteilen einher: Unerfahrene Kunden können vom Ergebnis der Bestellung enttäuscht sein, weil die Anweisungen vom Schneider anders interpretiert wurden, als man es sich vorgestellt hätte, weil der Stoff, der als Muster von zehn mal zehn Zentimetern noch gut aussah, als Anzug nun doch etwas gewagt daherkommt, und dergleichen mehr. Zudem ist handwerkliche Maßschneiderei, die traditionell an vielen Stellen von Hand genäht und bearbeitet wird, kein billiges Vergnügen. Kenner loben und lieben jedoch die, in mehreren Anproben verfeinerte, überragende Passform und Verarbeitungsqualität bester maßgeschneiderter Kleidung im Vergleich zu guter Konfektion.

Stoffe bei einem Hemdenschneider

Um weniger Erfahrenen oder weniger investitionsfreudigen Kunden einige Vorteile der Maßschneiderei wie gute Passform und individualisierte Details ohne größere Risiken wie Unabsehbarkeit des Endproduktes zu einem geringeren Preis anbieten zu können, bietet die Bekleidungsindistrie seit geraumer Zeit eine Art Hybrid aus Maß- und Fertigkleidung an – Maßkonfektion. Auch hier wird basierend auf Kundenwünschen und -maßen ein Kleidungsstück hergestellt, allerdings ist der Kunde auf einige Varianten festgelegt, ohne das gesamte Spektrum der theoretisch realisierbaren Möglichkeiten ausschöpfen zu können. Kann der Kunde des Maßschneiders die Form seiner Sakkotaschen millimetergenau selbst bestimmen, ist der Kunde des Maßkonfektionärs auf einige übliche Auswahlmöglichkeiten beschränkt. Auch werden in aller Regel weit weniger Körpermaße genommen, als dies beim Maßschneider der Fall wäre. Die ermittelten Maße finden zudem nicht Eingang in einen individuell erstellten Schnitt; vielmehr wird ein bereits vorhandener Schnitt des Anbieters lediglich an den notwendigen Stellen verändert. Die genaue Arbeitsweise, insbesondere die Anzahl der veränderbaren Details schwankt, je nach Anbieter, beträchtlich. Einfachere Optionen –großteils maschinell verarbeitet– begnügen sich mit einer Handvoll Messpunkten und geringfügigen Eingriffen in den Grundschnitt, beste Maßkonfektion ist in Herangehensweise –lose Einlagen, handgearbeitete Details– und Ergebnis für Laien kaum von handwerklicher Maßschneiderei zu unterscheiden, was sich oft auch im Preis niederschlägt. Das Ergebnis bleibt jedoch stets individualisierte Massenware.

Je nach persönlichen Anforderungen, Budget und handwerklichem wie traditionellem Anspruch findet sich für jeden eine bezahlbare und zufriedenstellende Option. Traditionell hergestellte, maßgeschneiderte Kleidung mit Maßkonfektion gleichzusetzen wäre jedoch ebenso zu kurz gegriffen, wie eine der beiden Optionen als einzigen Weg zur perfekten Garderobe darzustellen. Beides, Maßkonfektion wie Maßschneiderei kann sehr gut, aber auch alles andere als zufriedenstellend ausgeführt sein; das Ergebnis hängt jeweils vom gewählten Anbieter ab. Auch der Preis ist kein eindeutiges Unterscheidungsmerkmal; ein nach allen Regeln der Kunst im eigenen Atelier großteils von Hand hergestellter Anzug des neapolitanischen Traditionsschneiders Gennaro Solito kostet in etwa so viel wie ein Anzug aus dem Maßkonfektionsrepertoire des texanischen Modedesigners Tom Ford.

Der Einsteiger in die Welt der zeitlosen und anspruchsvollen Herrengarderobe ist gut damit beraten, sich, bevor er eine Entscheidung trifft, genau zu informieren, mehrere Maßkonfektionäre und Maßschneider zu besuchen und zu testen, mit welchem Produkt er sich am wohlsten fühlt – im Hinblick auf Passform, Individualität und natürlich auch Kosten. Gründliche Auseinandersetzung mit dem Thema vorausgesetzt, steht dem gelungen Erlebnis Kleidung nach eigenem Anspruch nichts mehr im Wege. Probieren Sie’s an!…oder aus?

Kategorie: Herrengarderobe

Florian S. Küblbeck

Florian S. Küblbeck ist freier Journalist und schreibt vor allem über Mode, Stil und Genuss. Mit seinem Erstwerk "Was Mann trägt: Gut angezogen in zwölf Schritten" gab er 2013 sein Debüt als Buchautor.

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